Die Oder Ich
überfiel ihn immer noch bei der Arbeit, im Auto auf dem Weg ins Büro blendete es ihn, einmal war er deshalb schon fast in den Graben gefahren, und er fürchtete sich davor in der Nacht, wenn er erwachte und zum Klo ging. Wie es nach Schlüters Kollaps am Straßenrand weitergegangen war, hatte er von Christa erfahren. Sie hatte ihren ohnmächtigen Mann an den Straßenrand gezerrt und war zum Haus gerannt, um Krankenwagen und Polizei zu alarmieren, dann zur Unfallstelle zurück, wo sie ihren Mann immer noch an der Grabenböschung vorgefunden hatte, neben vier weiteren Gestalten, die offensichtlich aus dem Unfallwagen gekrochen waren. Die vier zischten in einer fremden Zunge. Als der Krankenwagen eintraf, setzte Christa den Notarzt auf die Fremden an und zog Schlüter mit sich fort, die dunkle Auffahrt zurück zum Haus, wo sie ihn ins Bett schaffte, in dem er langsam wieder zu sich kam.
Im Hemmstedter Tageblatt, das sie nach dem Umzug wieder abonniert hatten, hatten sie die Sterbeanzeigen studiert, aber nichts gefunden. Auch keinen Unfallbericht. Als hätte das Ereignis nie stattgefunden.
Christa strich Schlüter mit nasser Hand über den Kopf. Oder die Mietstreitigkeiten, ob er die selbst erleben wolle? Die Streitereien um Werkmängel und Zinssätze, Vertragsklauseln und Verjährungsfristen? Die Zänkereien zwischen Nachbarn, Kompagnons und Verwandten? Die Kündigungen?
Nein, nein, bestimmt nicht, das alles nicht. Schlüter hob beide Arme und wedelte mit den Fingern.
»Also, was willst du dann?«
Leben wollte er. Einfach nur leben. Etwas erleben. Etwas Schönes vor allem.
»Und wieso liest du dann so viel? Das ist doch auch Leben aus zweiter Hand.«
Allerdings. Das hatte er in letzter Zeit auch so empfunden.
»Und wieso hast du nie Lust zum Verreisen? Wir könnten doch mal ein verlängertes Wochenende wegfahren, zum Beispiel nach Helgoland. Wie oft habe ich dir das schon vorgeschlagen? Aber du bist ja immer unentbehrlich.«
Den spöttischen Ton, unter dem sie ihre Anklage verbarg, hatte er gehört. »Ich bin nicht unentbehrlich«, widersprach Schlüter schlapp. »Aber …« Wie oft hatte er seiner Frau schon die logistischen Komplikationen erklärt, die ein freier Tag verursachte, zu schweigen von den Katastrophen, die er auslösen konnte?
»Du kannst mir helfen, Reisig über die Möhren und die Rote Bete zu legen, und Laub, damit sie nicht erfrieren. Das ist Leben!«
Ach diese praktischen Frauen! Auch dazu habe er keine Lust.
»Und wozu hast du dann Lust?«
Schlüter schüttelte den Kopf und zuckte hilflos die Schultern.
»Irgendwas stimmt mit dir nicht. In letzter Zeit bist du anders.«
War er anders geworden? Und wenn ja, wie?
»Ich möchte mal was Positives erleben. Nicht immer diese elenden Streitereien. Da muss man ja depressiv werden.«
Christa goss den Tee ein und stellte ihm die Tasse hin. »Hier«, sagte sie. »Machen sie dir zu schaffen, deine Mandanten?«
»Und wie. Ich hasse diese Litaneien, diese Beschuldigungstiraden, diese Wutreden, diese Enttäuschungsarien, diese Hassopern, diese Kleinlichkeitsirrgärten! Kein Wunder, dass es so viele Säufer im Kollegenkreis gibt.«
»Ich weiß«, sagte Christa sanft. »Aber zähl sie mir nicht alle auf. Erzähl lieber.«
»Bardenhagen hat sich erschossen letztes Jahr …«
»Ich weiß«, sagte Christa. »Und Gausewein säuft sich allmählich zu Tode. Passt zu seinem Namen.«
Das sind Geschichten, dachte Schlüter und nickte, die reichen für einen Abend.
»Kurbjuweit heißt er«, begann er müde. »Freitag war er wieder da und ich kriege ihn nicht aus dem Kopf. So eine hoffnungslose Gestalt.«
Schlüter war der Mann aufgedunsen und noch grauer im Gesicht erschienen als bei dessen erstem Besuch, vielleicht sogar eine Spur gelb. Kurbjuweit steckte in der gleichen riesigen Jeans und er roch, als habe er sie seit dem letzten Besuch auch nicht verlassen. Er saß vor dem Schreibtisch mit gesenktem Doppelkinn, die Unterarme gekreuzt über dem mächtigen Bauch.
»Als ich ihn so sah, da dachte ich, man müsste mal raus, fort von diesen sinnlosen Gesprächen. Aber das habe ich natürlich nicht gesagt.«
Nein, er hatte seine Berufspflichten nicht vergessen. »Was führt Sie zu mir?«, hatte er routinemäßig gefragt und ein mäßig interessiertes Gesicht aufgesetzt.
Schlüter hatte einen Trostblick auf das Landschaftsbild des lokalen Meisters geworfen, das neben seinem Schreibtisch an der Wand hing; eine ländliche Szene aus vergangenen Zeiten: ein
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