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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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wie man ein voreilig gesprochenes Urteil wasserdicht begründen konnte, glatzköpfigen Rechtspflegern auf dem Weg zur Kaffeepause, den Becher in Brusthöhe vor dem Sternum, mit dem rechtwinklig geknickten Daumen den Löffel fixierend, und watschelnden Bezirksrevisoren; alle lautlos wie im Stummfilm, denn der Colaautomat keuchte laut und begrub jedes andere Geräusch.
    Kuhn, der stets gesprächseifrige Justizamtmann von der Hauptwachtmeisterei, entstieg dem Fahrstuhl, ein Wägelchen voller Akten vor sich, das er an Schlüter vorbei Richtung Poststelle bugsierte. Als er sich an der Glastür, die in den Seitenflügel führte, drehte, um sie zu öffnen, gewahrte er Schlüter.
    »Na, wieder Kampf heute, was??!«, rief er, den Wagen ungeduldig hin- und herschiebend, mit einem inquisitorischen Blick auf Sigismund Kaczek, der immer noch auf der Bank saß und rauchte, mit gebeugtem Kopf.
    »Was sagen Sie?«, schrie Schlüter zurück.
    »Kampf heute!?«, brüllte Kuhn.
    »Nur ’n bisschen, Herr Kuhn, nur ’n bisschen.«
    »Was sagen Sie?«, brüllte Kuhn.
    Schlüter ging über zur Zeichensprache, indem er die flache Hand mehrfach waagerecht gegen das Linoleum senkte, um Deeskalation anzudeuten. Warum ging er nicht zu dem Automaten und zog den Stecker raus? Wie neulich, als er hier einmal allein gesessen hat. Plötzlich wurde der ungemütliche Gerichtsflur, der gleichzeitig Treppenhaus war, zum Meditationsraum – die Leute grüßten freundlicher und wussten nicht, warum.
    Kuhn ließ seinen Wagen stehen und stellte sich vor Schlüter, die Glastür, die er gehalten hatte, fiel zu.
    »Wir kämpfen nicht, Herr Kuhn«, sagte Schlüter. »Wir arbeiten mit der Wahrheit, das reicht.«
    »Zu weich, der Vollmann, zu weich! Wehret den Anfängen!«, rief Kuhn Sigismund Kaczek ins Gesicht, den Zeigefinger zur Pistole erhoben.
    »Welchen?«, fragte Schlüter.
    »Welchen, was?«
    »Anfängen!«
    »Ich will Ihnen was sagen, Herr Schlüter«, erklärte Kuhn mit erhobener Stimme, Kaczek fixierend wie ein Staatsanwalt den Angeklagten beim Plädoyer. »Ich weiß ja nicht, was der Kerl verbrochen hat …«
    »Nichts!«, rief Kaczek, stand wütend auf und erwürgte seine Zigarette im Gitter des Aschenbechers, der an der Wand neben der Tür unter der Terminsrolle hing. Kaczek war athletisch gebaut und einen halben Kopf größer als Kuhn, was Schlüter beruhigte.
    »Nichts? Wer hier rein muss, hat was auf’m Kerbholz, so viel ist gewiss, aber wie ich den Vollmann kenn, der wird womöglich …« Kuhn machte einen langen Hals, um auf Zehenspitzen die Terminsrolle zu lesen. Langsam ließ er die Zeigefingerpistole sinken. Man konnte nie wissen, ob es nicht gut war, sich die Namen böser Buben zu merken, man begegnete sich immer zweimal im Leben.
    »Alles Russen, Polen und Türken, Albaner!«, schimpfte Kuhn, drehte sich um, einen schnellen Blick auf Kaczek und seinen Lockenkopf werfend, und studierte erneut die Terminsrolle.
    Schlüter stellte sich widerwillig hinter den Beamten und las. Man konnte Kuhn nicht widersprechen. Ein wesentlicher Teil der Strafgerichtsbarkeit wurde vom Nachwuchs der Kriegs-, Unterdrückungs- und Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Osten, aus dem großrussischen Reich, der Türkei, dem Libanon und dem ehemaligen Jugoslawien in Anspruch genommen, die einen heimgerufen, viele erst nach achthundert Jahren, die anderen geflüchtet und geduldet. Sie hießen Krieger, Olenburger, Wisnagel, Abu-Shameh, Grigorenko, Al-Zein und Gürisik. Kein einziger einheimischer Name auf der Liste.
    »Wehret den Anfängen!«, wiederholte Kuhn.
    »Welchen?«, fragte Schlüter noch mal.
    »Denen«, antwortete Kuhn mit gesenkter Stimme und wies rückwärts mit dem Daumen auf die Terminsrolle.
    »So? Und wie?«, fragte Schlüter.
    »Rausschmeißen. Wegschicken! Nicht reinlassen!«
    »Wen?«
    »Die Türken. Die machen hier nur alles kaputt. Die …«
    »Die Aussiedler auch? Alle rausschmeißen?«
    »Die Russen? Ja!« Kuhn nickte heftig.
    »Mein Gott, was für ein Lärm!«, wechselte Schlüter das unerfreuliche Thema.
    »Lärm, was für ’n Lärm?«, schrie Kuhn gegen den Lärm an.
    »Hören Sie den Kasten da etwa nicht mehr?«
    Kuhn folgte Schlüters Blick. »Ach der …«
    Kopfschüttelnd machte sich der Justizamtmann auf den Rückweg, schob sein Aktenwägelchen den ordentlichen Dienstweg und die Leute von der Poststelle würden frische Arbeit bekommen.
    Die Tür des Gerichtssaals öffnete sich und der Verurteilte aus der Neun-Uhr-Sache trat heraus, ein

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