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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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würde er erst recht nicht.
    Es war am 20. März, nicht lange nach seinem ersten Kontrollgang, als es geschah.
    Er war in der Küche und knipste zum ersten Mal seit Wochen das Radio an. Mutter hörte immer gern Radio bei der Hausarbeit. Damit gehe die Zeit besser hin, sagte sie.
    Vielleicht kann man diesen Lärm von oben damit übertönen, dachte Kurbjuweit. Wär doch gelacht, wenn er, der Mann mit der Red Nine, mit dem bisschen nächtlichen Lärm nicht fertig werden könnte!
    Es war kein Sender eingestellt. Es ist ein altes Radio, Kurbjuweit drehte das Rad, mit dem man den Sender sucht. Es knackte und knirschte, es knatterte und tschirpte. Was war das?
    Was dann geschah, wird Kurbjuweit nie vergessen, es ist, als sei es gerade geschehen, ja, als geschehe es jeden Augenblick neu. Ein Rhythmus ist zu hören, ein auf- und abschwellendes Rauschen, oder ist es eine Stimme? Kurbjuweit beugt sich zum Lautsprecher herab, um besser verstehen zu können, dreht eine Winzigkeit an dem Rad. Eine langsame tiefe Stimme brummt unter dem Ätherrauschen, eine dunkle Stimme, aber Kurbjuweit kann immer noch nichts verstehen, obwohl er dicht an das Radio rückt, sogar sein Ohr an den Lautsprecher drückt, er dreht noch eine Winzigkeit, das Rauschen schwillt in Wellen auf und ab und dazwischen hört er immer wieder die Stimme, er hält den Atem an, presst das Ohr an das Gerät.
    »Kurbjuweit, Kurbjuweit, Kurbjuweit …«
    Der Schweiß bricht ihm aus, wie kann es sein, dass er seinen eigenen Namen im Radio hört? Kurbjuweit rückt ab, dreht die Lautstärke auf, es knistert und kracht in dem Gehäuse, aber immer noch diese dunkle Stimme, so dunkel wie die der Hexe Stachowiak. Eine krokodilkalte Hand streicht ihm den Rücken hinunter.
    »Kurbjuweit, Kurbjuweit, Kurbjuweit …«
    Kurbjuweit dreht den Sender weg. »Das kann nicht sein«, murmelt er. »Das ist unmöglich!«
    Er schaltet auf lange Welle, es faucht und knistert aus dem kleinen Lautsprecher, im Hintergrund ein Piepen, einzelne Töne, er dreht ein winziges Wenig am Rad, es piept wieder, lang, Pause, drei Mal lang, Pause, lang und zwei Mal kurz. Kurbjuweit zittert am ganzen Leib, denn er kann das Morsealphabet, sein Vater hat es ihm beigebracht, einmal lang ist das T, drei Mal lang ist das O, und lang und zwei Mal kurz das D. Tod, kein Zweifel, Tod. Kurbjuweit und Tod!
    Genau so hat er es erlebt.
    Er riss den Stecker aus der Wand und starrte das Radio an, die Hände auf die Anrichte gestemmt, schnaufend und zitternd, denn er war randvoll von Angst. Dann packte er das Radio und schaffte es in sein altes Schlafzimmer, warf es auf das Bettgestell seines Vaters. Mochte es kaputtgehen, solch ein Radio brauchte er nicht mehr.
    Zurück in der Küche wollte er sich wieder setzen, auf den Stuhl hinter den Tisch, auf dem sich die Reklamezeitungen vieler Wochen häuften. Er griff zu einem Zettel und zu seinem Stift, er musste seine Gedanken ordnen, aber sein Blick blieb am Fernseher hängen. Und während das Geschurre und Geschiebe über ihm immer lauter wurde, zog Kurbjuweit die Tischlade auf, in der er seine Red Nine verwahrte, und während er sie aufzog, bestürzte ihn die Erkenntnis, dass der Fernseher genau gegenüber stand, der Bildschirm blickte auf die Lade, aus der er jetzt seine Red Nine zog. Mit einem Hieb warf er die Lade zu. Er sprang auf, fort von der verräterischen Mattscheibe des Fernsehers, keuchend stand er im Flur und presste sich die Hände an den Kopf, damit er das Knirschen und Reiben nicht hörte, das ihm folgte und über ihm kreiste, er wollte hinaus aus der Wohnung, fortlaufen, so weit weg wie möglich. Aber dann kehrte die Vernunft zurück. Er nahm die Hände von seinem Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, ging so normal wie möglich in die Küche, ohne den Fernseher zu fixieren, packte das Kabel, riss es aus der Steckdose und schaffte den Fernseher hinüber zum Radio.
    Mit einem wütenden Knurren nahm er die veränderte Atmosphäre der Küche wahr, die jetzt keine Verbindung mehr zur Außenwelt hatte. »Ich habe es gewusst«, murmelte er. »Eines Tages würde es so weit kommen.«
    Inzwischen hat Kurbjuweit sich an die neue Lage gewöhnt. Vor allem hat er Konsequenzen gezogen. Denn ab jetzt muss er mit allem rechnen. Deshalb hat er sich eine Burg gebaut.
    Wieder steht er in der Küche und trinkt Wasser. Er ist durstiger denn je. Er setzt den Krug ab. Er ist erschöpft, er sehnt sich nach Schlaf, sein Kopf summt und die Augen brennen. Wann hat er das letzte

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