Die Oder Ich
junger dunkelhäutiger Mann mit pomadisiertem Haar; er lebte noch, und das offenbar nicht schlecht, denn er grinste frech, eine Schar feixender Zeugen mit Händen in den tiefer gelegten Hosentaschen hinter sich herziehend. Man hatte gemeinsame Sache gemacht, das war deutlich, und das Ergebnis war ein Freispruch gewesen. Oder eine Gefängnisstrafe auf Bewährung, was auf das Gleiche herauskam.
Schlüter und sein Mandant traten gemeinsam in den Gerichtssaal Nr. 10 ein, hinter ihnen die schwarzhaarige Dame und POM Schäfer. Saal war übertrieben, denn der Raum, in dem Amtsrichter Vollmann Recht sprach, war eigentlich nicht größer als ein bescheidenes Wohnzimmer, trotzdem hatte die Justiz auf ihr imposantes Interieur nicht verzichtet: Es fehlte nicht der hohe Tresen für Richter, Staatsanwalt und Protokollantin, damit das Objekt der Rechtspflege, der Angeklagte, sogleich spüren konnte, wer Herr und wer Knecht war. Der Hohe Tisch füllte die linke Seite des Raumes aus. Unterhalb des Tisches das Zeugenstühlchen, links davor die Angeklagtenbank und rechts davor der Tisch für den Vertreter des Jugendamtes oder den Sachverständigen, falls nötig. Immerhin konnte man hier als Verteidiger neben seinem Mandanten sitzen und ordentlich mit ihm reden, denn Haftsachen wurden hier nicht verhandelt.
Die Möbel waren zu groß für den Raum, sie wirkten so lächerlich wie die Kaiserkrone auf dem Haupt eines Bürgermeisters. Der Staatsanwalt saß mit dem Rücken zum Fenster, das helle Licht der Aprilsonne reduzierte ihn zum Schemen und Vertreter des Staates. Zwei Zuschauer hockten auf der hinteren der drei Stuhlreihen und repräsentierten die Öffentlichkeit.
Strafrichter Vollmann sortierte seine Akten um und legte die aktuelle zuoberst. Er war ein Mann um die fünfzig mit einem sonnenbraunen Jungengesicht, Lachfalten um die Augen und schütterem, nach hinten gekämmtem Haar. Wie immer begrüßte er die Eintretenden mit einem lebensfrohen guten Tag, er sprach mit sanfter, gleitender Stimme und empathischem Timbre. Er galt als freundlicher und fleißiger Richter, und das war richtig, solange man als Verteidiger keine abweichenden Meinungen vertrat und nicht merkte, mit welchen Tricks Vollmann aus den Diebstahlserien der Libanesen im Ostpreußenviertel gerichtsstatistisches Kapital schlug.
Vollmann hob seine Augenbrauen, als er Schlüters ansichtig wurde. »Sie …, hier?!«, fragte er. Natürlich hatte er in der Ermittlungsakte Schlüters Namen gefunden.
»Ich kann Sie beruhigen, Herr Vorsitzender, Herr Kaczek hat mir gestern erst das Mandat erteilt, und selbstverständlich weiß ich, dass ich nach dem Unfall am Ort war, aber aufgrund eines Schocks kann ich mich an nichts erinnern. Posttraumatisches Belastungssyndrom.« Er stockte. Wie sollte Vollmann begreifen, dass Kaczeks Unfall ein Déjà-vu der Schießerei in der Türkei vor fünf Jahren war?
»Schon gut«, beruhigte Vollmann friedfertig, »ich bin überzeugt, dass Sie …«
Er raschelte in seiner Akte und nahm die Routine auf. Er stellte fest, dass der Angeklagte Sigismund Kaczek mit seinem Verteidiger Peter Schlüter aus Hemmstedt erschienen war, dem – aufmunterndes Nicken – der Angeklagte hiermit Vollmacht erteile, Seitenblick zur Protokollführerin, die es aufnahm. Jetzt erwies sich, dass die Schwarzhaarige Dolmetscherin war, denn Vollmann machte sie als solche bekannt und erinnerte sie mit Bezug auf die bereits erfolgte Vereidigung an ihre Pflicht zur wahrheitsgemäßen Übersetzung. Schäfer, der Polizist, erhielt nur den müden Hinweis, er wisse ja, dass er zur Wahrheit verpflichtet sei. Den Rest der Belehrung murmelte Vollmann in die Akte hinein, denn Polizisten sagten immer die Wahrheit, sie waren Berufswahrsager, man musste sie nicht langwierig aufklären.
Schäfer wurde hinausgeschickt und dann konnte es losgehen.
Der Staatsanwalt stand auf und aus dem Gegenlicht heraus, endlich konnte Schlüter sein Gesicht erkennen, es war der kleine rundliche Könke, der als Hardliner verschrien war. Während er die polnischen Namen in der Anklageschrift radebrechte, umspielte ein überlegenes Lächeln die Lippen Kaczeks, aber auch der Dolmetscherin: ein gutes Zeichen. Schlüter las die Namen mit, er hatte noch nie so viele so schlecht aussprechbare Konsonanten auf einem Haufen gesehen. Und das sollte eine indogermanische Sprache sein? Es gab viele Polen, die gutes Deutsch sprachen, aber keinen Deutschen, der Polnisch konnte; Deutschland kehrte Polen fast zehn Jahre
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