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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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am 14. Juli 1998 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,58 Promille das Fahrzeug Skoda mit dem polnischen Kennzeichen DLU 81 TL in der Ortschaft Hollenfleth-Engelsmoor – als Schlüter das gelesen hatte, war ihm schwummerig geworden – gefahren, aufgrund seiner alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren habe, welches im Graben der Landstraße K 42 auf Kilometer 6,7 zu stehen gekommen sei, wobei seine Landsleute Grzegosz Szczepański, Włodzimierz Wojciechowski und Władisław Przybyszewski erheblich verletzt worden seien. Damit nicht genug, wurde Kaczek der gemeinschaftlichen Schwarzschlachterei und des gemeinschaftlichen ungesetzlichen Inverkehrbringens von Schweinefleisch angeklagt, weil er, wie es in trockenstem Anklageschriftendeutsch hieß, gemeinsam mit den oben angegebenen, in Polen aufhältigen und daher nicht als Zeugen zur Verfügung stehenden Beteiligten Schweinefleisch unbekannter Herkunft und nicht mit dem Stempel der vorgeschriebenen Schlachttieruntersuchung und somit entgegen dem Fleischhygienegesetz transportiert habe, um es dem gewerblichen Verkauf, jedenfalls aber dem privaten Verzehr zuzuführen.
    »Das waren gar nicht Ihre Gedärme?«, hatte Schlüter gefragt, einer Ohnmacht nahe.
    Kaczek hatte den Kopf geschüttelt und erklärt: »Njä, nicht Gedärrme von mir, nur Gedärrme von Schwain.«
    Damit war alles klar, ein Rätsel war gelöst.
    Schlüter hatte Kaczek eingeschärft, sich auf keinen Fall zur Sache zu äußern, sondern eisern zu schweigen. Ohne Aktenkenntnis sei dies die einzig vertretbare Strategie.
    Über der Rückenlehne der Bank hing der Glaskasten, in dem die Zwangsversteigerungstermine angeschlagen waren, man musste mit gebeugtem Kopf sitzen, eine gute Vorbereitung für den Sünder und seinen Verteidiger. Dazu der Lärm vom altersschwachen Colaautomaten, der am Niedergang zum wilhelminisch riechenden Klo stand – das Kühlaggregat röterte, schepperte und gurgelte ohrenbetäubend, der Lärm zerstörte jeden vernünftigen Gedanken –, der schmutzige Linoleumboden zwischen den Füßen, hellgrüne Wände und der Luftzug, den die neu eingebauten Feuerschutztüren erzeugten, wenn jemand sie öffnete, auf dem Weg zum Grundbuchamt oder zur Wachtmeisterei und wieder zurück. Man müsste diesen Flur mal Amnesty zeigen, dachte Schlüter.
    Er stand auf, weil er kein Sünder war, der sein Haupt zu beugen hatte, und füllte die leere Zeit mit Nachrichten vom Unglück anderer, indem er die Anschläge im Glaskasten las. So, so, Rathjens war wieder fällig, Zwangsversteigerung angeordnet! Die Bullen hatten ihn zwar leider nicht umgebracht, aber seiner Gesundheit schwer zugesetzt, er hatte über zwei Wochen im künstlichen Koma im Krankenhaus Hemmstedt gelegen und konnte wohl seither keine Extraschichten als Klauenschneider mehr einlegen, eine kraftzehrende Tätigkeit, mit der er bisher seine Prozesse finanziert hatte. Termin am 13. Mai, also in knapp vier Wochen. Der ganze Hof sollte unter den Hammer kommen. Na! Und das, obwohl Rathjens kein Baraltenteil mehr zahlen musste. Schlüter ging langsame Kreise. Vielleicht würde sich Schlichtmanns Nachbarschaftsproblem doch noch ohne Gewaltanwendung lösen. Ob Schlichtmann davon nichts mitbekommen hatte? Bald war die Zeit des Viehaustriebs; Gelegenheit für Rathjens zu neuen Übergriffen. Schlichtmann war wieder ziemlich fit, hatte Christa berichtet. Ich sollte Schlichtmann anrufen, dachte Schlüter. Gute Nachrichten sollte man dem Nachbarn nicht vorenthalten. Und dann gingen Schlüters Gedanken unter dem Lärm des Colaautomaten zu Bruch.
    Kaczek rauchte schon wieder. Drüben kreuzte eine stark geschminkte Schwarzhaarige auf imposanten Stöckeln den Flur, und auf der Bank neben der Tür zum Anwaltszimmer saß ein uniformierter Polizist, den Schlüter als POM Schäfer von der Zweimannstation in Großenborstel identifizierte. Er hatte ihn vor langen Jahren geschieden, dabei aber dessen Frau vertreten. Vermutlich war Schäfer als Erster am Unfallort eingetroffen und deshalb als Zeuge geladen. Grau war er geworden, der Mann, aber seine Erscheinung war deswegen nicht weniger beeindruckend: die breiten Schultern, das markige Stoppelgesicht, der strenge Gerechtigkeitsblick.
    Die Zeit schlich, während die Justiz hin und her wogte, in Gestalt von hastigen Rechtsanwälten mit wehenden Roben, mit und ohne Akten, übergewichtigen Wachtmeistern, in sich versunkenen Richtern, die an die nächste Verhandlung dachten oder daran,

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