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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Mal richtig geschlafen?
    Er geht in seine Burg. Bananenkartons, Umzugskartons, Katzenfutterkartons, alle möglichen Kartons hat Kevin beschafft. Wo früher Vaters Betthälfte war, quer vor der Tür, ist jetzt eine breite Wand aus Kartons, nach und nach ist sie dicker und höher geworden, geduldig hat er sie Wabe um Wabe ergänzt, die Konstruktion verstärkt, verfeinert, verbessert, und jetzt reicht sie hinauf bis zur Decke und füllt den ganzen Raum aus. Man kann gerade noch die Tür öffnen. Kurbjuweit hat ein kompliziertes Bauwerk errichtet und viel Klebestreifen verbraucht. Ein schmaler Gang führt nach links zum Fenster. Dort gibt es einen niedrigen Durchlass, er muss sich bücken und schlüpft durch und ist in seiner Burg. Die Jalousie hat er zugeklebt, wie drüben in seinem alten Schlafzimmer, und so ist das neue Schlafzimmer eine dunkle Höhle geworden, in der nur noch Kartons sind, nur nicht dort, wo Mutters Bett ist. Aber auch darüber, an der Decke, hat er Kartons befestigt, und die Wand zur Nachbarwohnung ist mit Kartons verbaut. Nur eine kleine Höhle ist vom Zimmer übrig geblieben, die sich über Mutters Bett wölbt. Kurbjuweit tappt durch die Kartonwände hin, er krabbelt vom Fußende her auf das Bett, lässt sich auf die Matratze sinken, die Red Nine hat er bei sich. Er legt sie nur noch aus der Hand, wenn Kevin kommt und neue Kartons bringt.
    Kurbjuweit liegt auf der Seite und zieht seine Knie an. Es ist dunkel hier, er fühlt sich fast so sicher wie ein Embryo im Leib seiner Mutter. Aber er ist ein Embryo, der sich wehren kann, denn welcher Embryo hätte eine Red Nine? Und endlich fällt Kurbjuweit in den tiefen Schlaf, nach dem er sich gesehnt hat.

21. Kapitel
     
    In dem ein merkwürdiges Strafgericht tagt
und der Zufall, dieser Bruder Leichtfuß, mächtig springt
     
    Sigismund Kaczek ging nervös vor dem Gerichtssaal auf und ab und rauchte. Bei jedem Schritt wippten seine langen Locken. Schlüter trat auf ihn zu, die Eingangstreppe hinter sich lassend, und gab ihm die Hand zur Begrüßung. Der Mann war bleich, vom Rauchen natürlich und weil er doch Angst hatte, er, der schon ganz andere Sachen durchgestanden hatte als dieses kleine Verfahren, in dem es nur um seinen Führerschein und eine Geldstrafe ging.
    Auch Schlüter war nervös. Selten war er auf eine Verhandlung so schlecht vorbereitet gewesen. Kaczek war erst gestern, am heiligen Sonntag, im Moor vorgefahren und hatte Schlüter gebeten, ihn zu vertreten. Ein Wiedersehen nach zehn Jahren; das Schicksal hatte sie damals zusammengeführt, als Kaczek für seinen Vater, einen ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter, sein Recht gegen den deutschen Herrn und Sklavenhalter durchsetzen wollte.
    Noch nie hatte Schlüter wegen eines Geschehens verteidigt, das er, jedenfalls teilweise, miterlebt hatte.
    Auf zehn Uhr war die Verhandlung terminiert. Es war schon zwanzig Minuten über die Zeit, Richter Vollmann war selten pünktlich, weil jede Planung seiner ausufernden Geschwätzigkeit zum Opfer fiel. Dennoch: Angeklagter und Verteidiger mussten zur festgesetzten Zeit zur Stelle sein.
    Denn war der Richter wider Erwarten doch einmal pünktlich, aber der Angeklagte und sein Verteidiger nicht, dann wurde Vollmann ungemütlich, sein Lieblingswort, mit dem er entsprechende Entscheidungen ankündigte. Vollmann litt, wie fast alle seiner Kollegen, an einer gefährlichen Wahrnehmungstrübung: Er glaubte, unvoreingenommen und vollkommen zu sein. Ein Verteidiger war bei einem unvoreingenommenen und vollkommenen Richter natürlich überflüssig. Ein Verteidiger störte den ordnungsgemäßen gemütlichen Ablauf einer Hauptverhandlung. Leider ließ der Staat diese Art von Berufskrankheit zu, anstatt das Strafrichteramt auf Zeit einzuführen, was der Qualität der Rechtsprechung aufhelfen würde.
    Bei Vollmann musste man sich also darauf einstellen, ein Stündchen auf dem staubigen Gerichtsflur zu verbringen. Anwalt und Angeklagter setzten sich schließlich auf die lange Sünderbank vor der Tür zum Gerichtssaal. Schlüter hatte keine Gelegenheit gehabt, die Gerichtsakte einzusehen, Kaczek hatte ihm gestern nur die zerknitterte Anklageschrift in die Hand gedrückt; ihm wurde vorgeworfen, im Straßenverkehr ein Fahrzeug geführt zu haben, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage gewesen sei, das Fahrzeug sicher zu führen, und dadurch Leib und Leben anderer Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet zu haben, indem er

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