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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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nach der Wende noch immer den kalten Rücken zu.
    Schlüter erklärte für Kaczek, dieser verstehe ausreichend Deutsch, es müsse nicht alles übersetzt werden, und im Übrigen werde sein Mandant sich zur Sache nicht äußern. Damit erntete er ein ernstes Stirnrunzeln des Richters.
    »Wirklich nicht? Sie vergeben sich die Chance zur aktiven Verteidigung!«
    »Gleichwohl, Herr Vorsitzender.«
    Vollmann küsste das Mikrofon und orderte Schäfer herein. Der Polizist berichtete, wann er den Einsatzbefehl bekommen habe, wann er von Großenborstel aus am Unfallort eingetroffen sei. Dort habe sich ihm eine unglaubliche Schweinerei, »im wahrsten Sinn, Herr Vorsitzender«, dargeboten, alles sei voller Blut, Fleisch und Eingeweide gewesen, er sei – der Polizist hüstelte und eine zarte Röte überzog sein Gesicht – kurz ohnmächtig geworden bei dem Anblick, denn – tiefes Durchatmen – er habe glauben müssen, die Insassen seien schwer verletzt, zumal ihnen die »Eingeweide um den Hals hingen«. Auch wenn es ihnen an situationsangemessenem Ernst gefehlt habe. So habe einer eine frische Leber grinsend aus der Jackentasche gezogen, »so groß, Herr Vorsitzender«, und erst nach und nach sei klar geworden, dass es sich nicht um Eigen- und Menschen-, sondern um Fremd- und Schlachtfleisch gehandelt habe, zumal der Mensch nur existieren könne, wenn die Leber im Bauch stecke, nicht aber, wenn sie in der Jackentasche …, allein die Vorstellung, ein Mensch, der seine eigene Leber …
    Der Polizist verstummte, sein Gesicht war weiß wie das Mehl, aus dem Christa die Sonntagsbrötchen backte.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Vollmann und beugte sich über seinen Tresen.
    Er bekam keine Antwort. Der Polizist starrte auf die Platte des Zeugentischchens, sein Adamsapfel ruckte, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er holte tief Luft.
    »Wenn man sich das wieder vorstellt«, sagte er. Nur einer der Beteiligten sei ansprechbar gewesen, nämlich der Angeklagte, die anderen hätten sich nicht auf den Beinen halten können, während sie in den Därmen gewirtschaftet hätten, aber der Angeklagte habe die Frage, ob er gefahren sei – »selbstverständlich nach ordnungsgemäßer Belehrung, Herr Vorsitzender« –, eindeutig mit Ja beantwortet.
    Bevor Schlüter Kaczek zum Schweigen verdonnern und den Polizisten fragen konnte, wie unter Schlachthausbedingungen und bei Ohnmacht eine ordnungsgemäße Belehrung habe stattfinden können, fuhr Kaczek hoch und rief: »Gefahren ja. Bin gefahren. Aber nicht so!«, wobei er beidhändig ein imaginäres Steuerrad drehte.
    »Aber wenn Sie gefragt werden, ob Sie gefahren sind«, beugte sich Vollmann vor, »und Sie sagen Ja, dann sind Sie doch auch gefahren! Wie soll man das denn sonst verstehen?«
    »Njä, nicht so gefahren«, beharrte Kaczek und wiederholte seine Pantomime. »Nur so!«, rief er, beide Arme stramm am Leib.
    »Wenn ich einwerfen darf«, meldete sich die bislang arbeitslose Dolmetscherin von der Sachverständigenbank. »Wir haben im Polnischen keine verschiedenen Worte für das aktive Fahren und das als Beifahrer Fahren. Dafür benutzen wir ein und dasselbe Wort. Und wenn Herr Kaczek geantwortet hat, er sei gefahren, dann ist nicht klar, ob er damit gemeint hat, er sei selbst gefahren oder nur Beifahrer gewesen.«
    »Schließlich übersetzt man von der eigenen in die fremde Sprache!«, setzte Schlüter nach.
    »So …«, äußerte Vollmann gedehnt und sichtlich enttäuscht. »Na, das ist mir noch nicht untergekommen, dann …«
    »Dann kann«, warf Schlüter ein, »der Vorwurf der Anklage nicht aufrechterhalten werden – wenn ich das Plädoyer an dieser Stelle kurz vorwegnehmen darf.«
    Vollmann dachte nach. »So, hm, so. Tja. Was sagen Sie, Herr Staatsanwalt?«
    Könke zuckte die Schultern. »Ich glaube …«
    Vollmann machte einen schwachen Versuch. »Aber wer saß denn dann am Steuer? Das können Sie doch jetzt sagen, nachdem …«
    Schlüter schüttelte den Kopf. Kaczek tat es ihm nach.
    »Kommen wir zu den anderen Vorwürfen«, resignierte Vollmann. »Wollen Sie sich dazu äußern, Herr Kaczek?«
    Schlüter schüttelte den Kopf. Kaczek tat es ihm nach.
    »Es wäre aber besser, wenn Sie sich äußern, zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen würden, Herr Kaczek.« Das Fleisch, das im Wagen gewesen sei, müsse ja nun einmal irgendwo hergekommen sein und es müsse irgendwo ein Schwein – oder eine ganze Herde, wenn er den Zeugen richtig verstanden habe – geschlachtet worden sein,

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