Die Oetkers - Geschaefte und Geheimnisse ber bekanntesten Wirtschaftsdynastie Deutschlands
Russland und die neuen, späten Nationen wie Deutschland und Italien. Und alle dachten und handelten imperialistisch und sahen einander in erster Linie als Rivalen, nicht als Partner. Ein feindseliges Misstrauen prägte die Beziehungen zwischen den Staaten. Jeder beäugte den anderen. Das Deutsche Reich war zur stärksten wirtschaftlichen und militärischen Macht des Kontinents aufgestiegen. Seine schnell wachsende Kriegsmarine forderte die alte Seemacht Großbritannien heraus. Die Briten suchten sich durch ein Bündnis mit Frankreich und Russland zu wappnen. Auf diese Weise wollten sie die Machtverteilung in Europa in der Balance halten. Doch genau dadurch fühlten sich die Strategen in Berlin eingekreist – und ihrerseits provoziert. Die diplomatischen Krisen häuften sich und immer öfter war in den europäischen Hauptstädten vom großen Krieg die Rede, einem unvermeidlichen Völkerkampf, auf den man vorbereitet sein müsste.
Das Gerede wurde schließlich zu einer Prophezeiung, die sich selbst erfüllte. Ein Funke genügte zur Explosion. Am 28. Juni 1914 ermordeten serbische Nationalisten in Sarajewo den österreichischen Thronfolger |87| Franz Ferdinand. Das angeschlagene Habsburgerreich wollte sogleich mit Krieg gegen Serbien antworten, fürchtete aber eine Reaktion Russlands. Daher versicherte es sich zunächst der deutschen Bündnistreue und bekam aus Berlin grünes Licht für eine Politik der Stärke auf dem Balkan. Die Hoffnung der Deutschen, dass der Krieg regional bleiben würde, trog. Aus der Julikrise entwickelte sich binnen Tagen ein großer europäischer Krieg. Auf die russische Teilmobilmachung antwortete Deutschland am 1. August 1914 mit einer Kriegserklärung an das Zarenreich und zwei Tage später mit einer weiteren an die Adresse des mit Russland verbündeten Frankreich. Am 4. August erklärte wiederum Großbritannien Deutschland den Krieg.
Der Ausbruch des Kriegs wurde überall im Kaiserreich gefeiert. Krieg war ja für die Deutschen damals keine schreckliche Vorstellung. Wovor hätte man sich auch ängstigen sollen? Der letzte Feldzug, 1870/71 gegen Frankreich, war schnell gewonnen worden. Warum sollte es dieses Mal anders sein?
Eine fiebrige Hochstimmung erfüllte die Menschen in den Augusttagen 1914, der sich auch Rudolf Oetker nicht entziehen konnte. Der Fabrikantensohn hatte zu dieser Zeit gerade sein privates Glück besiegelt. Er hatte Ida Meyer geheiratet, eine dunkelhaarige Bürgertochter mit feinen Gesichtszügen. Aber für Zweisamkeit blieb nach der Hochzeit wenig Zeit. Schon am zweiten Tag der Mobilmachung musste sich Rudolf Oetker in St. Avold in Lothringen einfinden. In dieser Kleinstadt hatte er früher schon militärische Übungen absolviert und war Reserveoffizier der Ulanen geworden.
Bei den Ulanen handelte es sich um eine mit gussstählernen Lanzen bewaffnete und mit schmucker Uniform ausgestattete Reitertruppe, die zwar ein prächtiges Bild abgab, vom militärischen Standpunkt aus betrachtet jedoch hoffnungslos veraltet war.
Das war vermutlich einer der Gründe dafür, dass der Reserveoffizier Rudolf Oetker bereits eine Woche nach der Mobilmachung wieder bei seiner Frau sein konnte. Mit ihr zog er allerdings sogleich von Bielefeld nach Hannover, wo er Rekruten ausbilden musste. Die kaiserliche Armee brauchte neue Soldaten. In Friedenszeiten hatte Deutschland |88| 761000 Soldaten gehabt. Nach Kriegsbeginn wuchs die Stärke des Heeres innerhalb weniger Wochen auf drei Millionen Männer an. Zu den Rekruten, die die Militärbehörden gemustert und eingezogen hatten, kamen Kriegsfreiwillige in großer Zahl. Nicht weniger als 300000 junge Männer meldeten sich im Sommer 1914, um für Kaiser und Vaterland in die Schlacht zu ziehen.
Viereinhalb Monaten verlebte das frisch vermählte Ehepaar Oetker in Hannover. Als er im Herbst 1914 wieder zum Einsatz an der Front befohlen wurde, wusste Rudolf Oetker wohl noch nicht, dass seine Frau schwanger war. Mit welchen Gefühlen der Reserveoffizier in die Schlacht zog, ist nicht bezeugt. Vermutlich empfand er nicht anders als die meisten Männer seiner Generation. Ernst Jünger hat die Stimmung in seinem Kriegstagebuch »In Stahlgewittern« festgehalten: »Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, wob in uns allen die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen
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