Die Oger - [Roman]
Anblick.
Hagrim blickte kurz über die Schulter, um zu sehen, ob die Möglichkeit eines Rückzugs bestand. Leider war der Ork schon wieder auf den Beinen und machte Anstalten seinem Kumpan zu Hilfe zu eilen, wenn dieser überhaupt welche brauchte. Es gab kein Entrinnen. Die Flucht nach vorn schien ihm noch am ehesten geeignet, um einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen. Er stieß Cindiel an und deutete auf die rechte Seite der Gasse, auf der ein wenig mehr Platz zu sein schien.
»Du rechts, ich links«, raunte er ihr zu.
Cindiel stand noch immer fassungslos da, dennoch nickte sie. Hagrim zupfte sie kurz am Ärmel, und dann liefen sie los. Einige Schritte vor dem Oger suchten sie nach der lebenswichtigen Lücke ... und fanden sie schließlich auch.
Der Oger hingegen machte keine Anstalten, auf sie zuzugehen. Er beugte sich nach vorn, stützte sich auf ein Knie und breitete die Arme aus. Die Reichweite seiner Arme war enorm. Er konnte die vier Meter auseinanderstehenden Wände der Gasse mit den Fingerspitzen berühren. Cindiel machte einen Schlenker und versuchte durch den toten Winkel unter seinem Ellenbogen zu laufen. Hagrim stürmte dicht an die Wand gepresst vor. Doch die schnelle Reaktion des Ogers machte jede Flucht unmöglich. Cindiel wurde vom Herabschnellen eines Armes zu Boden gedrückt und kurz darauf von der massigen Hand an der Taille gepackt und in die Luft gehoben. Hagrim hatte nicht so viel Glück. Die Hand des Ogers umfasste seinen Kopf, riss ihn nach hinten, und dann wurde er in einer kreisenden Bewegung von der linken Seite der Gasse mit voller Wucht zur rechten geschleudert. Er durchschlug die Läden eines geschlossenen Fensters. Das Brechen mehrerer Knochen war deutlich zu hören, und Hagrims Körper erschlaffte und sank zu Boden.
Cindiel hatte kurzzeitig das Bewusstsein verloren und bekam von dem recht einseitigen Kampf nichts mit.
Als sie langsam wieder zu sich kam, fühlte sich ihr Körper an, als ob sie unter großer Anstrengung eine schwere Last getragen hätte. Ihre Beine waren taub, die Schultern schmerzten, und ihr Magen hatte sich verkrampft.
Langsam öffnete sie die Augen. Sie hing zirka einen Schritt über dem Boden. Ihr Blick war auf die Straße gerichtet, und sie bewegte sich schnell vorwärts. Als sie den riesigen Fuß, der öfter durch ihr Blickfeld wanderte, sah, fiel ihr wieder ein, was geschehen war. Der Oger trug sie fort. Er hatte sie am Hosenbund gepackt und schleppte sie umher, wie ein Kind, das eine Puppe beim Aufräumen achtlos durch die Gegend trägt.
Cindiel schrie und zappelte mit den Armen und Beinen, um sich aus der Gewalt des Ogers zu befreien, obwohl sie ahnte, wie hoffnungslos dieses Unterfangen war. Mittlerweile war ihr Verstand wieder so klar, dass sie die Hilferufe und Schreie der anderen Kinder hören konnte.
Abermals wurde sie von Panik übermannt. Sie ließ sich im Griff des Ogers hängen und starrte auf die Pflastersteine, die an ihr vorüberzogen.
Nach kurzer Zeit endete ihr Weg an einem geöffneten Schacht, der in die Kanalisation führte. Von unten war schwacher Fackelschein zu erkennen. Zwei gigantische Hände, die mehr Haare auf dem Handrücken besaßen als manch alter Mensch auf dem Kopf, griffen aus dem Loch und packten sie abermals an der Taille, um sie dann in halber Höhe zu drehen und knöcheltief ins Abwasser zu stellen. Ihr Blick tastete sich ängstlich an der vor ihr stehenden Gestalt hinauf.
Der im Fackelschein stehende Oger maß bestimmt zehn Fuß oder mehr. Er musste gebückt stehen, um nicht mit dem Kopf gegen die Tunneldecke zu stoßen. Seine unnatürliche Haltung ließ die Muskeln an seinem Körper anschwellen. Er trug eine stachelbesetzte Rüstung in mattem Schwarz. Es war keine von diesen Ritterrüstungen, wie Cindiel sie vom Anblick der Garde her kannte, sondern eher ein aus Ketten und Metallplatten zusammengesetzter Schutz. Gesicht, Hals und Schultern des Ogers waren mit dunklen Ornamenten bemalt, was seinem Charisma nicht unbedingt zugutekam.
Er hob die massige Hand in die Höhe und hielt sie so, als ob er eine Handpuppe führen wolle. Dann klappte er die Finger auf und öffnete den Mund extrem weit. Man konnte in dem vorgestreckten Kiefer eine beeindruckende Anzahl von Zähnen sehen, die im Gegensatz zum sonstigen Erscheinungsbild des Ogers sehr gepflegt aussahen. Dennoch ließ der betäubende Mundgeruch auf ein weitgehend fehlendes Interesse an Körperpflege schließen.
Wie hypnotisiert öffnete Cindiel den Mund
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