Die Operation
Briefumschlag aus dünnem Wachspapier mit einem winzigen, aber ausreichenden Stück Stoff von undefinierbarer Farbe.
»Sieht gut aus«, sagte Daniel. Er klappte den Deckel zu und sicherte ihn mit dem Haken. Dann reichte er die Schachtel an Stephanie weiter, die sie zusammen mit den Pässen in ihre Handtasche steckte.
Eine Viertelstunde später traten Daniel und Stephanie wieder in die bleiche, mittägliche Wintersonne hinaus. Sie gingen quer über die Piazza San Carlo und direkt zu ihrem Hotel zurück. Trotz des Jetlags war ihr Gang beschwingt. Beide fühlten sich leicht euphorisiert.
»Also, das hätte doch nicht besser laufen können«, sagte Daniel.
»Da muss ich dir Recht geben«, sagte Stephanie.
»Dann will ich dich auch gar nicht erst an deinen Pessimismus erinnern«, neckte Daniel. »Würde ich nie machen.«
»Moment mal«, wies Stephanie ihn zurecht. »Die Übergabe der Grabtuchprobe ist gut gelaufen, aber deshalb ist Butler noch lange nicht geheilt. Meine Bedenken beziehen sich auf die ganze Geschichte.«
»Ich glaube ja, diese kleine Episode war nur der Vorbote für das, was noch kommt.«
»Ich hoffe, dass du Recht hast.«
»Was fangen wir jetzt mit dem Rest des Tages an?«, wollte Daniel wissen. »Unser Flug nach London geht morgen Früh um fünf nach sieben.«
»Ich muss ein bisschen schlafen«, sagte Stephanie. »Und du auch. Lass uns doch zurück ins Hotel gehen, ein bisschen was essen und eine halbe Stunde die Augen schließen. Danach ziehen wir noch mal los. Ich würde mir gerne noch ein paar Sachen anschauen, besonders die Kirche, in der das Grabtuch aufbewahrt wird.«
»Hört sich gut an«, sagte Daniel in freundlichem Ton.
Michael Maloney blieb so weit wie möglich hinter Daniel und Stephanie, ohne dass er Angst haben musste, sie zu verlieren. Er war überrascht, wie schnell sie gingen, und er musste ihr Tempo mithalten. Als er aus dem Cafe gekommen war, hatte er sie am anderen Ende des Platzes gerade noch gesehen.
Als die Amerikaner das Cafe verlassen hatten, hatte Michael sich noch kurz mit Luigi verständigt und ihm geraten, ihre Personalien von den Behörden überprüfen zu lassen. Sobald er mehr wusste, sollte er ihn auf seinem Handy anrufen. Er selbst wolle die Amerikaner im Blick behalten oder ihnen zumindest bis zu ihrer Unterkunft folgen, bis er genügend Informationen zusammenhatte.
Als die Amerikaner dann um eine Ecke bogen, fing Michael an zu laufen, bis er sie wieder im Blickfeld hatte.
Er wollte sie auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Michael hatte sich den Rat seines Mentors und Vorgesetzten James Kardinal O’Rourke zu Herzen genommen und nahm seinen Auftrag sehr ernst. Er wollte in der kirchlichen Hierarchie noch weiter nach oben kommen, und bis auf den heutigen Tag war alles nach Plan gelaufen. Zunächst war da die Möglichkeit gewesen, in Rom zu studieren. Als Nächstes hatte der damalige Bischof O’Rourke seine Begabungen erkannt und ihn in seinen Mitarbeiterstab aufgenommen, dann war der Bischof zum Erzbischof aufgestiegen. An diesem Punkt seiner Karriere angelangt, wusste Michael, dass alles davon abhing, dass er seinem mächtigen Vorgesetzten positiv auffiel. Ihm war instinktiv klar, dass dieser Grabtuchauftrag die Gelegenheit war. Die Angelegenheit war dem Kardinal so wichtig, dass er dadurch die einmalige Chance erhielt, seine unbedingte Loyalität, seine Hingabe und - in Ermangelung konkreter Anweisungen - sogar sein Improvisationstalent unter Beweis zu stellen.
Als Michael die Piazza Carlo Alberto betrat, vermutete er, dass das Paar das Grand Belvedere ansteuerte. Er beschleunigte seine Schritte und fiel dabei fast in Trab, um direkt hinter den Amerikanern zu sein, wenn sie das Hotel betraten. Im Inneren hielt er sich im Hintergrund und sah zu, wie sie den Fahrstuhl bestiegen. Die Anzeige signalisierte, dass sie bis in den vierten Stock fuhren. Zufrieden zog Michael sich in den Lesebereich des Hotelfoyers zurück. Er setzte sich auf eine mit Samt bezogene Couch, griff nach dem Corriere della Sera und fing an zu lesen. Dabei behielt er mit einem Auge die Fahrstühle im Blick. So weit, so gut, dachte er.
Er musste nicht lange warten. Das Paar tauchte wieder auf und ging in den Speisesaal. Michael setzte sich auf eine andere Couch, von der er den Eingang zum Speisesaal besser im Blick hatte. Er war sich sicher, dass seine Umgebung ihm nicht die geringste Beachtung schenkte. Er wusste, dass in Italien das Tragen eines römisch-katholischen
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