Die Opfer des Inzests
pathologischen Defekt auf, der für eine
Schuldunfähigkeit spräche. Und es gibt nichts, was die Authentizität der gegen
ihn erhobenen Vorwürfe in Frage stellen würde. Ich bitte Sie, meine Damen und
Herren Geschworenen, sich vor Augen zu halten, daß dieses junge Mädchen eine
Entschädigung für ihr zerstörtes Leben verlangt. Sie unterzieht sich einer
Psychotherapie, aber das, was sie erlebt hat, war so traumatisierend, daß es
sie noch lange verfolgen wird. Der Angeklagte hat gestanden. Er rechtfertigt
sein Handeln mit angeblicher Liebe, aber er hat sich wiederholter
Vergewaltigung schuldig gemacht...
Diese Art von Verbrechen kann mit 19
Jahren Haft geahndet werden... ich beantrage 7 Jahre aufgrund mildernder
Umstände.«
Sieben Jahre! Mildernde Umstände! Wann
wird man Inzest endlich als wahres Verbrechen ansehen?
Maître Dreyfus hält als letzter sein
Plädoyer. Er wird alles versuchen, das Strafmaß noch weiter herabzusetzen,
indem er bei den Geschworenen Zweifel sät. Natürlich hebt er Mozères
Schuldeingeständnis vor, seine Offenheit und Reue.
»Er ist ein sanftmütiger Mensch, der in
zehn Jahren Ehe ein einfaches Leben geführt hat, ohne Probleme, ohne mit dem
Gesetz in Konflikt zu geraten«, erklärte der Verteidiger leidenschaftlich.
»Verschiedene Brüche haben ihn aus dem Gleichgewicht gebracht: sein berufliches
Versagen und die mangelnde Zuwendung seiner Frau. Anstatt zum Mann zu reifen,
hat er sich zurückentwickelt. Er ist ein Heranwachsender geblieben, was zu
dieser Verwirrung bezüglich seiner Beziehung zu seiner Stieftochter geführt
hat. Er hat seine väterliche Rolle nicht wahrgenommen, das geht deutlich aus
den psychiatrischen Gutachten hervor. Er wußte nicht, wo er stand. Die
Verwirrung wurde von seinem Umfeld gefördert sowie auch von Annies Schweigen.
Aber der Schock ist erfolgt, das kann ich Ihnen versichern, meine Damen und
Herren Geschworenen. Alain Mozère empfindet aufrichtige Reue, davon konnten Sie
sich selbst überzeugen. Ich bitte Sie also um ein ausgewogenes Urteil, eine Art
Übergangsmöglichkeit, damit das Leben um Annie und Loïc sich wieder
normalisieren kann. Ich würde fünf Jahre auf Bewährung vorschlagen, mit der Auflage,
die begonnene Psychotherapie fortzusetzen.«
Der Vorsitzende:
»Monsieur Mozère, haben Sie zu Ihrer
Verteidigung noch etwas hinzuzufügen?«
Mozère erhebt sich:
»Ich bitte Annie um Verzeihung für das
ganze Leid, das ich ihr zugefügt habe.«
Es ist 16 Uhr 30. Die Verhandlung ist
geschlossen. Der Vorhang ist gefallen. Wie auch immer der Ausgang sein wird,
die Prozedur war notwendig.
Annies Züge sind angespannt von
seelischem Streß und Müdigkeit. Wieder geht ihre Mutter im Saal der verlorenen
Schritte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Ihr
Vater hingegen umgibt sie mit großer Zuneigung. Wir sind alle ein wenig groggy.
Schweigend warten wir das Urteil ab.
Eine Stunde später sind die
Geschworenen sich einig.
»Die Geschworenen haben mit acht
Stimmen die Schuldfrage bejaht und ebenfalls mit acht Stimmen mildernde
Umstände anerkannt. Alain Mozère wird also der Vergewaltigung als
Erziehungsberechtigter an einer Minderjährigen für schuldig befunden.
Allerdings werden ihm mildernde Umstände zugute gehalten. Der Angeklagte wird
zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung und einer Entschädigung in Höhe von 60.000
Francs plus Zinsen an Annie verurteilt.«
Annies Mutter weint; vielleicht hatte
sie geglaubt, den Gerichtssaal gemeinsam mit ihrem Mann verlassen zu können.
Auch Annie weint. Weil das Strafmaß ihr
zu milde erscheint? Oder weil sie trotz allem erleichtert ist, endlich
rehabilitiert worden zu sein? Vermutlich beides. Daß ihre Anschuldigungen nicht
in Frage gestellt wurden, wird ihr ganz sicher helfen, wieder Selbstvertrauen
zu finden.
Ich blicke ihr nach, als sie zwischen
ihrem Freund und ihrem Vater das Gericht verläßt. Ich glaube, daß sie dank
ihnen einer glücklicheren Zeit entgegengeht.
Vielleicht ohne es zu wissen, hat sie
ein großes Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Ein bißchen, als hätte sie eine
von mir begonnene Aufgabe beendet.
Und dank ihr trage ich den Kopf wieder
höher. In Zukunft wird mich der Prozeß meines Vaters und die Erinnerung an
meine mißglückte Zeugenaussage vielleicht ein bißchen weniger quälen.
___________Lisie__________
Lisie lebt in eher bescheidenen
Verhältnissen. Mit fünf Jahren verbringt das Mädchen mehr Zeit auf der
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