Die Opfer des Inzests
Straße
oder in der Bar seiner Eltern, Sonia und Luigi, als in der Wohnung, einer Art
Hinterzimmer, das der ganzen Familie als Schlafraum diente. Sie scheint nicht
darunter zu leiden, auch wenn sie ständig aufgeschürfte Knie hat, die von
mißglückten Kletterpartien auf öffentlichen Bänken zeugen oder von wilden
Verfolgungsjagden, denen ein hervorstehender Pflasterstein ein jähes Ende
gesetzt hat. Trotz ihrer langen blonden Haare und ihrer zierlichen Gestalt
klettert sie auf Bäume, prügelt sich tapfer und spielt auf dem Platz mit den
Großen Ball.
»Ein halber Junge!« meint ihr Vater
stolz, während er den Stammgästen ihren Pastis vorsetzt.
Ihre Mutter lächelt zustimmend, wobei
man sich fragt, ob ihr Lächeln Nachsicht für Lisie bekundet, Einverständnis mit
ihrem Mann oder ob es sich nur um den Reflex einer Geschäftsfrau handelt, die
sich vor ihren Kunden stets von ihrer besten Seite zeigen muß. Mit dem gleichen
ein wenig gequälten Gesichtsausdruck quittiert sie den Witz eines
Trunkenboldes, die anzüglichen Komplimente eines Lastwagenfahrers auf der
Durchreise und das Hereinstürmen Lisies, die sich einige Sekunden an ihren Hals
klammert. Von dem Augenblick, da sie morgens früh die Vorhänge öffnet, bis spät
abends, wenn sie die Stühle auf die Tische stellt, um leichter
Zigarettenkippen, fettige Papierservietten, Erdnußschalen und Dreck in Richtung
Mülltonnen fegen zu können, scheint diese Frau irgendwie abwesend.
Seit sie sich im Dorf niedergelassen
haben, erzählt man sich die Geschichte von Sonia und Luigi. Um der Rache von
Sonias Mann zu entgehen, mußten sie die Pariser Gegend verlassen. Als der
ruhige, unauffällige Druckereiarbeiter von einem »wohlmeinenden« Freund von
Sonias Affäre mit Luigi, einem Italiener, der in der Informatikbranche
arbeitete, erfuhr, zertrümmerte er die ganze Einrichtung. Dann setzte er sich
mit einer Axt auf die Gartenbank und wartete auf die Rückkehr der Treulosen.
Was wohl passiert wäre, wenn Sonia und
Luigi nicht von demselben guten Freund vor der Raserei des Gehörnten gewarnt
worden wären? Sie ließen es jedenfalls nicht darauf ankommen. Luigi nahm die
Dinge in die Hand und überzeugte Sonia davon, daß sie sofort fliehen müßten.
Er hatte schon Monate versucht, sie zu
überreden, mit ihm ein neues Leben anzufangen. Der hübsche Südländer,
lebensfroh und herzlich, war dem Charme seiner Nachbarin erlegen, einem Mädchen
aus dem Norden mit feinen Zügen und zurückhaltendem Gebaren. Sie hatte seine
Avancen nicht abgewehrt. Trotz ihrer beiden Kinder Yvan, 13 Jahre, und
Mathilde, 11 Jahre, hatten Sonia und ihr Mann sich nicht mehr viel zu sagen.
Sie gingen höflich, aber ohne große Zuneigung miteinander um und teilten nur wenige
Freuden.
Sonia ging jeden Tag in die hübsche
Boutique, in der sie als Verkäuferin arbeitete. Aber in der Mittagspause traf
sie sich bei einem Freund mit Luigi. Dieser Freund, der selbst eine Schwäche
für Sonia hatte und den es wurmte, ihr und Luigi seine Wohnung als Liebesnest
zur Verfügung zu stellen, war es schließlich auch, der ihre Affäre
ausplauderte.
Luigi hatte keine Kinder. Seine
bildhübsche junge Frau hatte ihm erklärt, daß sie keine wolle, vermutlich ein
Zeichen eines tiefreichenden Konfliktes, über den sie sich nicht weiter
auslassen wollte. Für Luigi, Sohn einer kinderreichen Familie und darauf
bedacht, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen, ein guter Grund, sein
Glück anderswo zu suchen.
Sonia hatte Schuldgefühle wegen ihrer
Affäre, weigerte sich jedoch, eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Gleichermaßen unfähig, auf ihren Geliebten zu verzichten wie ihren Mann um die
Scheidung zu bitten, lag ihr vor allem das Wohl ihrer Kinder am Herzen, denen
sie nicht den Vater nehmen wollte.
Damals hätte sie sich nicht träumen
lassen, daß sie gezwungen sein würde, sie zurückzulassen, daß sie ihr und nicht
dem Vater schmerzlich fehlen würden.
Als sie mit Luigi den ersten Zug nach
Südfrankreich bestieg, war Sonia ganz benommen von der chaotischen Situation.
Um ihr Leben zu retten, hatte sie ohne ein erklärendes Wort ihre beiden Kinder
verlassen. Sie stellte sie sich vor, todtraurig, von der Mutter verlassen
worden zu sein, und in panischer Angst vor dem Wahnsinn ihres Vaters. Aber wie
sollte sie umkehren? Luigi seinerseits fühlte sich unbeschwert und frei.
Das Paar kam bei einer Schwester Luigis
unter. Glücklich, endlich mit Sonia zusammenzuleben, überschüttete Luigi
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