Die Opfer des Inzests
Schwester zu streicheln. Er wird wieder rot im Gesicht.
Lisie kennt die seltsamen Flecken auf seinen Wangen, seiner Stirn und seinem
Hals bereits. Aber plötzlich machen sie ihr angst. Ihr Bruder kommt ihr
plötzlich vor wie ein Ungeheuer. Ihre Angst unterdrückend, findet sie die Kraft
zu sagen:
»Jetzt gibt mir die Bonbons, Van. Hören
wir auf. Du siehst ja ganz aufgeregt aus.«
»Kommt nicht in Frage! Das Spiel ist
noch nicht zu Ende. Noch hast du dir die Leckereien nicht verdient, die ich dir
mitgebracht habe. Mach die Augen zu. Bald wirst du wissen, worum es geht.«
Yvan nimmt die Hand seiner Schwester
und schiebt sie auf sein Geschlecht zu.
»Also, die Regeln sind ganz einfach. Du
mußt mich streicheln, bis ich einen Schrei ausstoße, verstanden?«
»Aber Van...«
»Still, Lisie, so ist das Spiel!«
Aber Lisie ist der Spaß vergangenen.
Die Liebkosung, die ihr Bruder von ihr verlangt, ist ihr unerträglich. Sie
möchte aufstehen und davonlaufen, sich im Café in die Arme ihrer Mutter werfen,
raus auf die Straße, in die Sonne. Sie wünscht, sie wäre eine Fee und könnte
Yvan wegzaubern. Denn der setzt sein abartiges Spiel fort. Er hat sich auf sie
gelegt. Er ist so schwer, daß sie fürchtet, in tausend Stücke zu zerbrechen.
Sie kann nicht schreien. Sie spürt, daß das alles falsch ist. Ihre Eltern
würden sie ausschimpfen, wenn sie sie sähen. Und dann würde Yvan ihnen
vielleicht erzählen, daß er sie bei Spielereien mit ihren Schulkameraden
erwischt hat... Das ist kein Spiel mehr, dessen ist Lisie sich bewußt, auch
wenn ihre fünfjährige Seele sich windet, es nicht wahrhaben will.
Lisie hätte es gern verhindert, stößt
aber wider Willen einen lauten Schmerzensschrei aus. Yvan ist gerade mit aller
Kraft in sie eingedrungen.
In Lisies Körper und in ihrem Kopf
breitet sich undurchdringliche Schwärze aus.
Yvan nutzt die Gelegenheit, seine
Schwester loszubinden und rauszulaufen.
Sonia fand ihre kleine Tochter
zusammengekrümmt auf Yvans Bett. Das Blut und die Haltung des Mädchens sprachen
für sich.
Wie konnte diese Frau angesichts dieser
traurigen Szene zuerst an den Erhalt ihrer Familie denken? Lisie hat Jahre
gebraucht, es zu verstehen. Indem sie von ihrer Tochter verlangt hat, ihr
schreckliches Geheimnis für sich zu behalten, hat die gequälte Mutter sicher
geglaubt, das Schlimmste verhüten zu können: daß die Familie, die sie solche
Mühe gehabt hat wieder zu vereinen und für die sie trotz ihrer Erschöpfung und
ihrer Enttäuschungen alles tut, was in ihrer Macht steht, erneut zerbricht.
Sonia brachte Yvan in einem Lernzentrum
unter. Er protestierte nicht. Luigi stellte nur wenige Fragen. Ihm war es nur
recht, daß Yvan aus dem Dorf verschwand. Seiner Ansicht nach hätte Sonia schon
früher so klug und entschlossen handeln sollen. Wie eindringlich hatte er ihr
dazu geraten!
Der junge Mann kam nur selten zwischen
zwei Praktika zu Besuch, wobei er darauf achtete, Lisie nicht zu nahe zu
kommen, die ihn im übrigen mied, wo sie konnte, jedoch ohne sich jemals die
lähmende Furcht anmerken zu lassen, die sich ihrer bemächtigte, wenn sie von
einem bevorstehenden Besuch ihres Bruders erfuhr.
»Lisie wird langsam reifer. Sie ist
sogar ein wenig verschlossen«, bemerkte Luigi nach einigen Wochen.
Offenbar war er ein wenig enttäuscht
von der plötzlichen Schüchternheit seiner Tochter. Tatsächlich hielt Lisie sich
jetzt häufiger bei ihren Eltern in der Bar auf als draußen auf der Straße,
suchte nur noch selten den Schutz der Hecke auf.
»Sie wird älter, das ist ganz normal«,
entgegnete Sonia ausweichend, müde und abwesend wie immer.
Lange hat Lisie sich bemüht, so zu leben
wie die anderen kleinen Mädchen, wobei ihr jedoch bewußt war, daß alles,
wirklich alles, in sich zusammenfallen würde, wenn sie ihre Vergewaltigung mit
fünf Jahren erwähnte. Man würde mit dem Finger auf sie zeigen, das hatte ihre
Mutter ihr gesagt. Ihr Vater würde kein Wort mehr mit ihr reden, so wütend wäre
er auf sie, und vielleicht würde er Yvan sogar verprügeln. Er konnte ihn ja
ohnehin nicht besonders gut leiden. Vielleicht würde er ihm verbieten, jemals
wieder nach Hause zu kommen, und das würde ihre Mutter sehr unglücklich machen.
Und Lisie wollte nicht alle unglücklich machen.
Wer war schuld, sie selbst oder Yvan?
Wer würde bestraft werden, wenn sie redete? Unmöglich, die Widersprüche zu
entwirren. Aber eins wußte sie bestimmt: Sie mußte schweigen. Auf ewig. Sie
wußte,
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