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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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schreiben, damit Du mich irgendwann
erhörst und mir hilfst.
    Bitte, Lieber Gott, denk an mich und
töte mich, wenn Du mich auch nur ein kleines bißchen lieb hast.«
     
    Den Brief steckte er in einen Umschlag,
den er unter sein Kopfkissen legte. Das ging jeden Abend so. Hiernach rechnete
Éric in jeder Sekunde damit, daß Gott ihn erhörte.
    Heute ist der Junge völlig wirr im
Kopf. Er ist ein Einzelgänger, der ebenso die Freundschaft anderer Jungen
ablehnt wie die Zärtlichkeiten von Mädchen.
    »Ich existiere nicht«, hat er mir
versichert. »Ich bin nichts mehr. Meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester
überschlagen sich förmlich, um mir ihre Liebe zu zeigen. Vielleicht ist das der
Grund, weshalb ich es nicht über mich bringe, ihnen anzuvertrauen, was mich
quält und zerstört. Es würde ihnen zu weh tun. Ich weiß, daß es sie unglücklich
macht, mich so zu sehen, aber sie wären noch viel unglücklicher, wenn sie den
Grund dafür wüßten. Der Tod meines Onkels vor zwei Jahren hat mich nicht
gerächt. Noch heute lähmt mich die Erinnerung. Ich habe sie bei Ihnen das erste
Mal herausgelassen, aber ich fühle keine Erleichterung. Die Scham ist
unvorstellbar. Heute empfinde ich noch stärker als früher, daß ich der
Bezeichnung Mensch nicht würdig bin. Ich werde ihrer nie würdig sein.«
    Ich fand nicht die Worte, die nötig
gewesen wären, Éric ein wenig Mut zu machen.
    Wer kann schon jemandem dabei helfen,
das Inakzeptable zu akzeptieren? Wer kann das Drama einer Vergewaltigung, eines
mit elf Jahren von einem schelmischen Jungen erlebten Inzestes, banalisieren?
    Ich war unfähig, mit ihm zu sprechen.
Aber ich hoffe, daß ich ihm wenigstens den Mut gegeben habe weiterzuleben.

_________Nadège_________
     
     
     
    Wie oft hat Nadège vor jenem erstickend
schwülen Abend im Juli schon gezittert, erfüllt von dem brennenden Wunsch,
ihrem Leben ein Ende zu machen? Wie oft hat sie die Hand nach dem kleinen
grünen Kästchen mit den Schlaftabletten ausgestreckt, das ihre Mutter zwischen
ihrem Shalimar-Parfum und dem Gesichtspuder aufbewahrt, der ihr einen
Porzellanteint verleiht? Wie oft hat sie zögernd vor dem Spiegel gestanden, die
Hände um den Rand des Waschbeckens gekrallt, das kleine katzenhafte Gesicht
verzerrt, von ganzem Herzen wünschend, ihr Spiegelbild würde sich auflösen? Auf
die andere Seite dieser zu glatten Fläche gelangen, nicht mehr existieren,
nicht mehr atmen, nicht mehr leiden. Vergessen. Sich vergessen machen.
    An diesem Abend findet Nadège in sich
nur noch diese eine Kraft: das Kästchen nehmen, es öffnen, den Inhalt in die
hohle Hand schütten, ein Glas mit Wasser füllen und die Dutzenden von Tabletten
schlucken. Ein bitterer Geschmack im Hals. Nicht in den Spiegel sehen. Nichts
mehr sehen, schon gar nicht sich selbst. Sich hinlegen. In der Erde versinken.
Oder davonfliegen, weit fort von allen und allem. Sich in der Nacht verlieren.
     
    »Nadège, was machst du denn? Ich bin
strandfertig. Raff dich auf, oder ich gehe ohne dich. Es ist schön draußen! Es
ist warm! Trödle nicht rum.«
    Murielle klopft an die Zimmertür ihrer
Schwester, ehe sie in die Küche flitzt, um Brote und Getränke einzupacken. Am
Mittag, zwischen zwei erfrischenden Bädern, werden sie auf einem Felsen
picknicken, wie jeden Tag seit Ferienanfang.
    Das Mädchen ist knapp zehn Jahre alt,
hat kleine braune Zöpfe und eine Stupsnase. Im Badeanzug hantiert Murielle um
den Kühlschrank herum und hüpft dann zu ihrem Zimmer, um ein T-Shirt
überzuziehen, das ihr bis zu den Knien reicht. Wieder ein ungeduldiger
Fußtritt, als sie an Nadèges Tür vorbeikommt, und weitere Klagen:
    »Alles bleibt an mir hängen! Langsam
habe ich die Nase voll! Du läßt dich von vom bis hinten bedienen, Nadège. Du
nutzt mich aus, weil ich die Jüngere bin!«
    Murielle spitzt die Ohren, kehrt zum
Zimmer ihrer Schwester zurück, öffnet die Tür einen Spalt breit. Nadège liegt
zusammengekrümmt auf dem sonnenüberfluteten Bett. Sie hat noch die Shorts und
das T-Shirt vom Vortag an.
    »Na hör mal. hast du denn gestern die
Fensterläden nicht geschlossen? Hast du dich denn gar nicht ausgezogen? Warst
du denn so müde? Was ist denn mit dir, Nadège? Mach die Augen auf! Beweg dich.
Hörst du mich? Wach auf! Lieg doch nicht so da. Nadège... Nadège!«
     
    Alle sagen: »Das kann doch nicht sein!«
Ihre Mutter, ihr Stiefvater, die Verwandten, Freunde, Nachbarn... Nadège hat
gerade ihr Abi in »Philosophie« mit Gut bestanden. Sie

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