Die Opfer des Inzests
hat nie schulische
Probleme gehabt. Seit der Grundschule ist sie in allem Klassenbeste gewesen.
Fleißig, lerneifrig, phantasievoll, kreativ, liebenswert. Ihre Lehrer ließen keine
Gelegenheit aus, ihre Intelligenz, ihren Charakter und ihre Umgänglichkeit zu
loben.
Den gleichen Erfolg hatte sie bei ihren
Freunden, die um ihre Zuneigung buhlten und später um ihre Liebe. Aber Nadège
schien es nicht eilig zu haben, sich in das Abenteuer der Liebe zu stürzen. Im
vergangenen Winter hatte sie sich endlich doch entschlossen. Sie hatte Mathieu
ausgewählt, einen Studenten der Schönen Künste, den sie in einem Skikurs
kennengelernt hatte. Seitdem rief der Junge sie ständig an, schrieb ihr haufenweise
Briefe. Er hatte sogar mehrere Porträts von ihr gemalt; ein Gesicht, das von
großen grünen Augen beherrscht wurde. Warum hatte er sie mit so traurigem
Gesichtsausdruck und so leerem Blick gemalt? Warum sah er sie so? Vermutlich
reine Romantik.
Murielle beneidete ihre große
Schwester: Alles schien ihr in den Schoß zu fallen. Vor allem in jenem Sommer.
Nach einem erfolgreichen Schuljahr konnte Nadège den Strand genießen, Pläne
schmieden, sich glücklich und zufrieden fühlen. Mathieu sollte in ein paar
Tagen anreisen: Er hatte sich einen Job bei McDonald’s um die Ecke besorgt, um
sie öfter sehen zu können. Nadège hatte sich an der philosophischen Fakultät in
derselben Stadt immatrikuliert, in der auch er studiert.
Murielle versteht überhaupt nichts mehr.
Warum hat ihre Schwester, ihr leuchtendes Vorbild, sie ohne ein Wort verlassen?
Warum hat sie sich das Leben genommen?
Jetzt stellen ihr die Ermittler der
Polizei tausend Fragen:
»Hatte deine Schwester irgendwelche
Probleme?«
»Was meinst du, was sie bedrückt haben
könnte?«
»Hat sie dir von ihren Sorgen erzählt?«
Murielle kann immer nur antworten:
»Nein... ich weiß nicht... Ich habe
nichts bemerkt. Sie hat mir nichts gesagt. Dabei haben wir beide viel
miteinander geredet. Ich verstehe das nicht.«
Probleme — Nadège? Sorgen? Daran hatte
Murielle nie gedacht. Wenn ihre große Schwester sie angegiftet hatte, hatte sie
ihr verziehen. »So sind ältere Schwestern eben«, hatte sie sich gesagt. »Ich
gehe ihr ein wenig auf die Nerven, aber bald werde ich auch groß sein. Dann
werden wir richtige Freundinnen. Dann läßt sie ihre schlechte Laune nicht mehr
an mir aus.«
Wenn sie einen unglücklichen Eindruck
gemacht hatte, hatte Murielle sich gesagt, daß das vermutlich normal war, wenn
man aufhörte mit Puppen zu spielen, um in das andere Leben einzutreten, das der
Erwachsenen. Nicht einfach, das Erwachsenwerden.
Gott sei Dank hielt sich Nadège meist
nicht zurück, mit ihr herumzualbern. An diese Momente erinnert Murielle sich am
besten. Sie spielten miteinander Karten und schummelten dabei bis zum
Gehtnichtmehr. Sie stürzten sich in homerische Kissenschlachten, bis sie vor
Lachen Bauchschmerzen hatten. Diesem ausgelassenen Toben folgten lange
geflüsterte Unterhaltungen. Nadège beschrieb das Kleid, das sie bei ihrer
Hochzeit mit Mathieu tragen würde, die Wohnung, in der sie leben würden, voller
Bücher, Bilder, Katzen und Kinder.
Nein, Nadège hatte keine Probleme. Oder
aber sie verbarg sie meisterhaft. Das kann Murielle schwören. Und doch hat ihre
große Schwester sich das Leben genommen. Daran läßt sich nicht deuteln. Und die
Kleine bleibt allein mit dieser so unerträglichen Trauer, diesem so
unerklärlichen Verlust.
Zwischen ihr und dem Kind, das ihre
Mutter mit Paul, ihrem Stiefvater, bekommen hat, wird es nie diese Vertrautheit
geben. Überhaupt ist es erst drei Jahre alt, dieses unausstehliche Gör, plärrt
andauernd und kann nicht teilen. Ihre Mutter? Die ist selten zu Hause, zu sehr
in Anspruch genommen von ihrem Posten als Wirtschaftssekretärin in einem
Großunternehmen. Paul? Den hat sie nie akzeptieren können. Er will den Platz
ihres Vaters einnehmen, der fünf Jahre zuvor bei einem Autounfall tödlich
verunglückt ist. Aber er stellt sich dabei ziemlich ungeschickt an.
Nadège hatte ihn auch nicht leiden
können. Bei genauer Betrachtung war das vielleicht sogar ihr einziges Problem.
Murielle war wohl aufgefallen, daß ihre Schwester sich veränderte, wenn er
abends nach Hause kam. Ihre hellen Augen verdunkelten sich, ihre Züge wirkten
plötzlich verschlossen. Sie gab vor, noch Hausaufgaben machen zu müssen, und
floh auf ihr Zimmer.
»Ein bißchen hart, die Große!« dachte
Murielle bei sich. Auch wenn ihr die
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