Die Opfer des Inzests
dummen Bemerkungen, die Paul andauernd
machte, um sie zu ärgern, auch auf den Geist gingen:
»Na, meine Hübschen, wollt ihr mir nicht
von eurem Tag berichten? Hat dein Freund angerufen, Nadège? Und du, Murielle,
hast du überhaupt schon einen?«
Das war sein Lieblingsthema. Die beiden
Schwestern hatte es nur genervt. Murielle verdrehte die Augen, zuckte die
Achseln und basta! Nadège wurde ganz blaß, und ihre Züge erstarrten vor Haß. Es
schien, als würde sie gleich in die Luft gehen oder in Ohnmacht fallen. Paul
fand das ausgesprochen witzig:
»Komm schon, Nadège, cool bleiben! Ich
interessiere mich für dich, das ist alles. Ist doch normal, oder? Du brauchst
doch nicht so ein Gesicht zu machen! Jeder weiß doch, wie verliebt du in
Mathieu bist.«
Sogar Murielle fand, daß ihre Schwester
überreagierte. Paul war nervtötend, ja. Er mischte sich in ihre Angelegenheiten
ein, gut. Aber es genügte doch, ihn einfach zu ignorieren. Warum verabscheute
Nadège ihn so sehr?
Nach Nadèges Tod verbringt die Kleine
viele Stunden im Zimmer ihrer Schwester. Sie liegt auf dem Bett, auf dem sie
sich noch vor kurzer Zeit flüsternd ihre Geheimnisse anvertraut haben. Sie
streichelt die Kleider ihrer Schwester, nachdem sie darauf bestanden hat, daß
sie noch aufbewahrt werden. Langsam, nachdenklich blättert sie in den
Unterrichtsordnem der Gymnasiastin. Ihre Schrift, alles, was sie zurückgelassen
hat, nährt die Illusion, daß sie noch lebt.
Aber da, zwischen zwei Heften, was ist
das für ein Brief? Er ist an sie, Murielle, adressiert. Ein länglicher blauer
Umschlag wie jene, die Murielle oft für Nadège zur Post gebracht hat:
»Beeil dich! Ich möchte, daß Mathieu
den Brief morgen bekommt«, hatte sie mit glänzenden Augen gefleht.
Auf diesem Umschlag stehen nur drei
Worte in schwarzer Tinte: Für meine Schwester.
Noch ehe sie ihn öffnet, weiß Murielle,
daß sie in wenigen Minuten die Gründe für das Drama kennen wird, das sie Tag und
Nacht verfolgt, seit Nadège auf dem Friedhof am anderen Ende der Stadt beerdigt
wurde. Mit trockenem Mund und klopfendem Herzen versucht sie die Kraft
aufzubringen, die Worte zu lesen, die Nadège geschrieben hat, als sie noch ganz
warm war und voller Leben. Worte von »vorher«, als sie noch hätte gerettet
werden können.
Meine kleine Schwester,
ich hoffe, daß Du diesen Brief findest,
falls aber nicht, ist es auch egal. Vielleicht sogar besser, weil Dir dann
erspart bleibt, in deinen jungen Jahren bereits zu erfahren, wie schlecht die
Welt ist. Und doch möchte ich, daß Du verstehst, warum ich nicht bei Dir, bei
euch allen, bleiben kann. Ich hätte Dir diesen Schmerz gern erspart, aber ich
leide zu sehr, um den Mut aufzubringen, weiterzuleben. Ich habe die Hölle
hinter mir. Möge sie Dir erspart bleiben. Ich habe Dich so lieb, meine kleine
Schwester. Was ich über vier Jahre durchlitten habt, ist entsetzlich. Ich darf
mir gar nicht vorstellen, daß es Dir ebenso ergehen könnte.
Weißt Du, es war alles gut, bevor Mama
wieder heiratete. Papas Tod machte mich traurig, er fehlte mir sehr, aber mir
scheint, daß wir drei uns gegenseitig trösteten. Nur um Mama machte ich mir
Sorgen. Ich spürte, daß sie neben der Trauer auch die Verantwortung belastete,
für uns zu sorgen, unsere Ausbildung zu finanzieren. Als sie uns Paul
vorstellte, war mir sofort klar, daß sie ihn als unseren Retter betrachtete.
Sein Job als Buchhalter, sein großes Haus auf dem Land, seine Art, sich um
alles zu kümmern... Ich unterdrückte meinen Groll und ignorierte die
Antipathie, die ich ihm gegenüber empfand. Vor allem, als Mama uns mitteilte,
daß sie mit unserem kleinen Bruder schwanger war.
Alles fing an, als sie vor dem
errechneten Termin ins Krankenhaus mußte. Noch am selben Abend kam Paul in mein
Zimmer. Du hast bei Großmama geschlafen. Wir waren allein im Haus. Ich las,
warm im Bett eingekuschelt. Ich fuhr zusammen, als er plötzlich da stand. Ich
verstand nicht, was er in meinem Zimmer machte. Er hatte nicht einmal
angeklopft.
Murielle wird ganz schwindlig. Bilder,
Szenen jagen sich vor ihrem geistigen Auge: das gequälte Gesicht ihrer
Schwester, ihre Wutanfälle, ihre Aggression, ihre Wortkargheit, Pauls
zweideutige Komplimente, wenn sie sich hübsch angezogen oder geschminkt hatte.
Was Nadège vier Jahre lang verschwiegen hat, muß entsetzlich sein, das ahnt
Murielle. Warum wäre ihre Schwester sonst nach und nach auf den Selbstmord
zugetrieben?
Nadège hat
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