Die Opfer des Inzests
also alles erklärt, in
diesem Brief, in ihrer kleinen sauberen und gleichmäßigen Handschrift. Sie muß weiterlesen.
Ich schäme mich zu erzählen, was dann
geschehen ist, Murielle. Paul hat mir nicht einmal Zeit gelassen, irgendwelche
Fragen zu stellen. Innerhalb von zwei Sekunden war er bei mir im Bett. Mit
einem Arm hielt er mich grob gepackt, während er mir mit der freien Hand den
Mund zuhielt. Auch wenn ich geschrien hätte, wer hätte mich schon gehört? Ich
geriet in Panik und wollte mich wehren. Er zog den Arm noch fester um mich. Ich
war wie gelähmt vor Schmerz. Paul riß mir das Nachthemd vom Leib. Er hat mich
vergewaltigt, Murielle. Es war wie ein Alptraum. Als er wieder ging, wußte ich,
daß das, was passiert war, mir für immer unerträglich bleiben würde. Meine
Zukunft war innerhalb weniger Minuten zerstört worden. Nichts ergab mehr einen
Sinn. Ich war 15 Jahre alt.
Wenig später kam Paul zurück. Er trug
einen Bademantel, schien ruhig, musterte mich aber stirnrunzelnd. Mit fester
Stimme sagte er: »Wenn du das Maul aufmachst, schlage ich dir die Zähne ein,
und dann haue ich ab, und ihr sitzt allein in der Scheiße. Außerdem würde deine
Mutter dir doch nicht glauben...«
Ich war unfähig, auch nur einen klaren
Gedanken zu fassen. Es erschien mir alles so ungeheuerlich. Dieses Gefühl von
Weltuntergang, einer Katastrophe, eines irreparablen Bruchs hat mich nicht mehr
losgelassen.
Was sollte ich Mama sagen, wenige Tage
vor der Niederkunft? Wie sollte ich mit dieser Wunde leben? Ich habe es
versucht.
Mama kam aus dem Krankenhaus zurück,
glücklich, vollauf mit dem Baby beschäftigt. Paul umsorgte sie, aufmerksam,
liebevoll, perfekt. Sollte ich schreien: »Mama, dein Mann hat mich
vergewaltigt! Dieser Mann, dem du vertraust, dieser Mann, den du liebst, dieser
Mann ist ein Dreckschwein!«
Die Sicherheit vermittelnde Harmonie,
die Mama so wichtig war, wäre durch meine Schuld zerstört worden. Paul hatte an
alles gedacht. Ich hätte den entsetzten Blick unserer Mutter nicht ertragen,
die Abscheu, die sie mir gegenüber vielleicht empfunden hätte, und ihren
Schmerz. Wem hätte sie geglaubt? Mir? Was hätte mir das genützt? Es hätte ihr
Leben und das der ganzen Familie zerstört. Und was, wenn sie an meinen Worten
gezweifelt hätte?
Wem sollte ich mich dann anvertrauen?
Dir? Beinahe hätte ich es getan. Aber konnte ich Deine Kindheit vernichten? Dir
ein so belastendes Geheimnis aufbürden? Ich habe mich dagegen entschieden. Auch
fühlte ich mich so beschmutzt. Was würdest Du nach diesem Geständnis von mir
denken? Und auch wenn ich der ganzen Welt hätte verkünden können: »Mein
Stiefvater hat mich vergewaltigt!«, hätte das auch nichts geändert.
Ich habe versucht zu vergessen. Mathieu
hat mir mit seiner Sanftmut und Zärtlichkeit dabei geholfen. Ich wollte mit
aller Kraft daran glauben, daß wir das Recht hatten, glücklich zu sein und
Pläne zu schmieden. Einige Minuten gelang es mir, dann wurde ich wieder von der
Verzweiflung überwältigt.
Ich werde mich nie von dieser
Beschmutzung freimachen können, das weiß ich. Es ist besser zu sterben.
Ich liebe Mathieu, aber es macht mir
angst, wenn er mich nur zu fest umarmt. Er versteht meine Ängste nicht. Wie
sollte ich sie ihm erklären? Ich werde nie die Frau irgendeines Mannes sein.
Überhaupt würde mich kein Mann haben wollen, wenn er davon wüßte...
Ich habe Angst vor dem Tod, Murielle.
Aber ich kann so nicht weiterleben. Bewahre Dich. Schütze Dich. Ich habe Dich
so lieb. Ich werde fortgehen, ich weiß nicht wohin. Ich wünschte, ich könnte
von dort aus über Dich wachen.
Nadège
Als sie mich aufsuchte, hatte Murielle
den Entschluß gefaßt, mit ihrer Mutter zu sprechen. Ich habe sie angehört. Ich
war wütend und unendlich traurig. Nadège hatte den Mut gehabt zu sterben.
Einige Jahre zuvor hatte ich selbst diesen Wunsch gehegt, ohne den Mut
aufzubringen, ihn in die Tat umzusetzen. Ich hätte alles gegeben, um sie ins
Leben zurückzuholen. Nicht sie hätte zahlen müssen, sondern derjenige, der ihre
Jugend zerstört hatte.
Ich habe nicht versucht, die kleine
Murielle, die so entschlossen war, ihre Schwester zu rächen, von ihrem Vorhaben
abzubringen. Sie hat Nadèges Brief ihrer Mutter gegeben.
Während der Lektüre hat die junge Frau
nicht mit der Wimper gezuckt. Keine Träne, kein Ausruf. Und am Ende hat sie
gemurmelt:
»Nadège ist tot, Murielle. Wir alle
trauern um sie. Aber deine Schwester war psychisch
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