Die Opfer des Inzests
und vor Lust
wimmernd auf einem Sessel neben dem Bett sitzt, gelingt es dem Jungen zu
fliehen.
Wie hat er sich wieder angezogen? Er
kann sich nicht daran erinnern. Nur seine panische Flucht aus dem Haus und vor
der alptraumhaften Szene werden ihm für immer im Gedächtnis bleiben.
Am Abend findet der Junge sich völlig
außer Atem und wie in Trance vor dem Haus wieder, in dem seine Tante Mathilde
wohnt, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt ist. Die junge Frau findet ihn
scheinbar schlafend an ihre Tür gelehnt vor, als sie heimkommt.
ȃric! Wie kommst du denn hierher? Was
ist denn passiert?«
Éric springt auf. Unfähig zu berichten,
was ihm widerfahren ist, die Augen weit aufgerissen, schreit er:
»Ich kann nicht bei Onkel Robert
bleiben! Onkel Robert ist gräßlich! Laß mich bitte bei dir bleiben. Ich will
nicht zu ihm zurück... Nicht zu ihm zurück... Nie, nie wieder.«
Mathilde, verblüfft, daß der Junge den
Weg zu ihr gefunden hat, und in Sorge wegen der Panik ihres Neffen, erklärt
sich spontan bereit, ihn bei sich aufzunehmen.
»Was nur in deine Eltern gefahren ist,
dich diesem alten Irren anzuvertrauen! Sie müssen den Verstand verloren haben!
Glücklicherweise geht es deiner Schwester schon besser. Sie werden also in etwa
einer Woche zurück sein. Sie haben mich heute angerufen. Sie konnten sich nicht
erklären, warum dein Onkel heute nachmittag aufgelegt hat, als sie mit dir
sprechen wollten. Sie haben sich Sorgen um dich gemacht. Zu recht, wie ich
sehe. Bei dem alten Irren ist wirklich eine Schraube locker, daß er ein Kind
derart aus der Fassung bringen kann. Was kann er nur zu dir gesagt haben? Du
willst nicht darüber sprechen? Okay, okay. Keine Angst, ich bringe dich nicht
zu ihm zurück. Du bleibst hier, bis deine Eltern zurückkommen. Wir rufen sie an
und teilen ihnen die Planänderung mit — natürlich ohne sie zu erschrecken. Wir
sagen einfach, du hättest eine leichte Grippe und wärst in meiner gut geheizten
Wohnung besser aufgehoben als in dem zugigen Haus des bedauernswerten Sir
Robert.«
Drei Tage rührt Éric sich nicht aus dem
Gästebett, das seine Tante im Wohnzimmer für ihn aufgestellt hat. Am Abend
liegen die Comics, die sie ihm hingelegt hat, bevor sie zur Arbeit gegangen
ist, noch genauso da.
»Warum versuchst du denn nicht, dich zu
beschäftigen?« fragt sie freundlich. »Ich weiß ja, daß du deine Eltern vermißt.
Aber es sind doch nur ein paar Tage. Sie sind bald wieder da. Die Zeit würde
dir weniger lang vorkommen, wenn du lesen oder aufstehen würdest.«
Als er stumm und apathisch bleibt, ruft
Mathilde besorgt einen Arzt. Auch er ist ratlos.
»Ein kleiner Anfall von Heimweh, würde
ich sagen«, diagnostiziert er, als er sich auch nicht zu helfen weiß. »Das ist
ganz verständlich bei einem Elfjährigen, der unter dramatischen Umständen von
seinen Eltern getrennt wurde. Wenn sie wiederkommen, wird er seine Lebensfreude
und gute Laune bald wiedergefunden haben, da bin ich ganz sicher. In seinem
Alter vergißt man die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens schnell wieder.«
Éric hat seine Lebensfreude nie
wiedergefunden. Er ist nie wieder derselbe kleine Junge wie »vorher« geworden.
Immer auf dem Sprung, traurig und in Gedanken versunken, meidet er seine
Freunde, hat kein Interesse mehr an der Schule, am Fußball und an den Spielen
auf der Straße.
»War der Unfall seiner großen Schwester
ein solcher Schock für ihn?« fragen sich die Eltern, die mit ihrem Sohn
vergeblich von einem Arzt und Psychiater zum anderen laufen.
Aus Éric-dem-Spaßmacher ist zur
Betroffenheit aller Éric-der-Schweigsame geworden. Weder die Rückkehr seines
Bruders Igor noch dessen Erzählungen von seinen Abenteuern, weder die
Aufmerksamkeiten von Agnès noch die wiederholten Bemühungen seiner Freunde, ihn
in ihre Spiele miteinzubeziehen, können etwas daran ändern.
Als er, durch die Lektüre meines Buches
ermutigt, zu mir kam, erzählte er mir die ganze Geschichte am Stück, als
fürchte er, den Mut zur Offenheit zu verlieren, wenn er nur eine kurze
Atempause einlegte.
»Abends nach der Schule machte ich schnell
meine Hausaufgaben und schrieb dann einen Brief, in dem immer so ziemlich das
gleiche stand:
Lieber Gott,
Ich bitte Dich um einen Gefallen: Ich
möchte sterben. Nur Du allein kannst das bestimmen, und aus diesem Grund bitte
ich Dich darum, tu es, töte mich. Ich weiß, daß es lange braucht, ehe Gebete
erhört werden. Ich werde Dir also jeden Tag
Weitere Kostenlose Bücher