Die Opfer des Inzests
sicheren Zuflucht geschehen? Mit der Zeit lernte ich, meine
Ängste zu beherrschen. Die Persönlichkeit meiner Lehrerin hat mir sehr
geholfen. Ihre Phantasie, ihre Bemühungen, uns mit Spaß und Freude an
Buchstaben, Wörter und Zahlen heranzuführen, begeisterten mich. Bei ihr machten
sogar die kleinen Pflichtaufgaben Spaß. Sie war groß und schön, mit einer
kleinen runden Brille, die ihr eine Strenge verlieh, die sie gar nicht besaß.
Sie spielte mit diesem falschen Eindruck.
Wie gern hätte ich eine Mutter wie sie
gehabt anstelle eines Ausbundes an Tugendhaftigkeit wie der meinen. Es dauerte
nicht lange, und meine Lehrerin wurde zu meiner Vertrauten. Sie erklärte mir
immer sehr ruhig, was ich falsch gemacht hatte, und brachte es fertig, mir zu
raten, ohne mir eine bestimmte Verhaltensweise vorzuschreiben.
Ich haßte den Sonntag, den Tag des
Herrn. Meine Eltern weckten mich schon im Morgengrauen. Ich mußte mich
schrubben und meine hübschesten Kleider anziehen für den Gottesdienst. In
meinem weißen Kleidchen und mit den kleinen Schleifen im Haar sah ich aus wie
ein Schoßhündchen. Die Lackschuhe drückten entsetzlich, aber beklagen durfte
ich mich nicht. Ich schob sämtliche Unannehmlichkeiten auf die Kirche und die Pfarrer
und begann, beides abgrundtief zu hassen. Meinen Vater und meine Mutter, die
mich zu dieser ganzen Maskerade zwangen, hätte ich mit den Pfarrern in einen
Sack stecken können, aber trotz unserer zahlreichen Auseinandersetzungen hatte
ich mir ein wenig Zuneigung und Respekt ihnen gegenüber bewahrt.
Wenn ich gewußt hätte...
An meinem zehnten Geburtstag habe ich
mir beim Aufwachen irgendwie gewünscht, daß sich endlich etwas an meinem
trostlosen Dasein ändern würde. Ich konnte ja nicht ahnen, wie entscheidend
mein Leben aus den Fugen geraten würde.
Der Vormittag zog sich hin. Bei uns zu
Hause war es Sitte, daß vor dem Mittagessen keine Geschenke überreicht wurden.
Und was, wenn meine Eltern sich ausnahmsweise einmal Mühe gegeben hatten, mir
eine wirkliche Freude zu machen? Wenn sie sich wirklich Gedanken gemacht
hatten, um etwas zu finden, was mich begeistern würde: ein Fotoapparat zum
Beispiel? Zehn Jahre: das war ein Meilenstein. Vielleicht würden sie ja endlich
meine Interessen berücksichtigen, vielleicht sogar unterstützen?
Irrtum! Sehr zufrieden mit sich,
schenkten sie mir... ein traumhaftes Kleid aus englischer Spitze und gaben sich
überrascht angesichts meiner Enttäuschung.
Die Mahlzeit verlief so still wie
immer, außer am Ende, da sie schockiert gewesen wären, wenn ich nicht in
Begeisterungsrufe ausgebrochen wäre wegen der Mandelcremetorte, einer
Spezialität meiner Mutter, die bei jeder Gelegenheit prahlte, daß die Torte
jedesmal anders schmecke, obwohl sie sich immer an dasselbe Rezept halte.
Endlich! Gleich würden wir aufstehen,
nachdem das langweilige Familienessen vorbei war, und ich würde mich in meine
Höhle zurückziehen und nach Herzenslust lesen können. Meine Mutter hatte jedoch
andere Pläne.
›Gina, du wirst doch an einem solchen
Tag nicht auf deinem Zimmer bleiben! Mach mir die Freude und zieh dir etwas
Hübsches an.‹
Ah! Ein Spaziergang mit den Eltern! Ich
würde mir anhören müssen, wie dieses vorbildliche Paar sich stundenlang über
Banalitäten aus ihrem Alltagsleben unterhielt. Mein Vater war unschlagbar, wenn
es darum ging, die Aufmachung einiger anderer Kinder im Park in höchsten Tönen
zu loben: ›Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen, Gina!‹ und etwas zu offen
turtelnde Liebespaare zu kritisieren. Meine Mutter nickte nur mit ihrer
sittsamen Kopfbedeckung. Ich bemühte mich derweil, mir meine Ungeduld nicht
anmerken zu lassen, bis wir endlich nach Hause zurückgingen.
Aber der Ausflug an meinem 10.
Geburtstag sollte sich völlig anders gestalten als jeder vorangegangene.
Geziert eröffnete mir meine Mutter:
›Du hast vielleicht Glück. Du darfst
deinen Vater begleiten. Der Major nimmt euch auf seinem Boot mit.‹ Der ›Major‹
war ein hochrangiger, pensionierter Marineoffizier. Er besaß eine Jacht, was
meine Eltern mit Neid erfüllte. Es war immer ein Ereignis, wenn er so gnädig
war, sie an Bord einzuladen.
Was mich betraf, wurde ich immer
seekrank. Ich lehnte mich also gegen dieses Angebot auf, da ich wußte, daß mir
wieder übel werden würde.
›Aber ich habe keine Lust, mit dem Boot
rauszufahren, Mama. Du weißt doch, daß mir immer schlecht wird. Ich will nicht
bootfahren!‹
›Und ich sage, du
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