Die Opfer des Inzests
gestört. Ihr Selbstmord ist
der Beweis. Und dieser Brief. Paul kann unmöglich getan haben, wessen sie ihn
beschuldigt, das muß dir doch klar sein. Sieh ihn dir doch an! Er ist die Güte
selbst. Was wären wir ohne ihn? Wir leben friedlich miteinander, trotz der
Tragödie, die wir durchmachen mußten. Lassen wir das Leben seinen Lauf nehmen.
Nichts und niemand kann uns Nadège zurückgeben. Zerreiß den Brief und denk
nicht mehr daran. Vergiß, Murielle, vergiß.«
Murielle wollte nicht länger mit ihrer
Mutter und ihrem Stiefvater unter einem Dach leben. Sobald wie möglich hat sie
ihre Volljährigkeitserklärung beantragt, die ihr auch bewilligt wurde. Ihre
Großmutter hat sie bei sich aufgenommen, ohne Fragen zu stellen.
Murielle ist zu mir gekommen, um mir
von Nadège zu erzählen, weil sie das Gefühl hat, an ihrem Geheimnis zu
ersticken, weil es ihr den Schlaf raubt und ihr Leben überschattet.
Niemals wird Murielle vergessen können.
___________Gina__________
Gina ist gerade 50 geworden.
»Bald werde ich eine alte Dame sein!«
sagt sie kopfschüttelnd, ein leises fatalistisches Lächeln auf den Lippen. »Ich
kann einfach nicht glauben, daß meine Jugend schon so weit zurückliegt...
Andererseits habe ich nie eine Jugend gehabt. Sie wurde mir vor sehr langer
Zeit geraubt. Ich war zehn...«
Gina ist sehr groß. Ihr schlanker,
muskulöser Körper strotzt vor Energie. Kurze, seidige Haare von hübscher
kastanienroter Farbe, nur vereinzelt von weißen Strähnen durchzogen, lassen
ihren dunklen Teint weicher erscheinen. Ihre großen haselnußbraunen, beinahe
bernsteinfarbenen Augen verleihen ihrem Gesicht ein eigentümliches Strahlen.
»Die Zeit hat der Erinnerung nichts
anhaben können. Die Jahre haben den Schmerz nicht gelindert. Der Inzest ist in
mir und quält mich seit jenem unheilvollen Tag, da meine Kindheit vernichtet
wurde. Es hat sogar ohne mein Zutun meinen Körper verwandelt, dessen bin ich
mir sicher. Ich habe so sehr verdrängt, was aus mir ein Vergewaltigungsopfer
gemacht hat, daß ich meine Identität und mein Geschlecht nicht mehr kenne. Wer
könnte behaupten, ich wäre feminin? Niemand. Und doch freut es mich. Ich würde
es vorziehen, wenn es anders wäre, aber ich habe schon lange keine Wahl mehr.
40 Jahre Leben außerhalb der Normen.
Ich wurde in einer sehr wohlhabenden
Familie geboren. Mein Vater, im Zweiten Weltkrieg hochdekorierter Berufssoldat,
führte zu Hause das gleiche strenge Regiment wie in der Kaserne. Meine Mutter
widersprach ihm nie, um des lieben Friedens willen oder aus Liebe vermag ich
nicht zu sagen.
Ich, die ich streng dazu erzogen war,
diesen dominanten Mann und diese unterwürfige Frau zu lieben, fühlte mich
erstickt. Um der bedrückenden Atmosphäre zu entfliehen, schloß ich mich in
meinem Zimmer ein. Paradox? Überhaupt nicht. Dort widmete ich mich in aller
Ruhe meiner großen Leidenschaft: dem Lesen. Mit einem Kriminal-, Abenteuer-
oder Science-fiction-Roman in den Händen vergaß ich alles um mich herum: die
erdrückende Atmosphäre daheim, die häufige Schelte, die Langeweile, die
Rebellion, die in meinem Inneren schwelte.
Ich habe aus den Büchern soviel
gelernt! Noch heute sind sie für mich wie Balsam an schlechten Tagen.
Meine Eltern sahen es nicht gerne, daß
ich mich auf diese Weise ihrem Zugriff entzog. Meine Lektüre entzog sich ihrer
Kontrolle. Würde ich nicht meinen Geist pervertieren mit den Werken, deren
Inhalt mein Vater verdammte? Meine Eltern versuchten alles, mich anderweitig zu
beschäftigen, mich von meinen Büchern loszueisen: ›Geh doch ein bißchen nach
draußen, Gina. Die Sonne scheint. Deine Freundinnen warten zum Spielen auf
dich.‹ Ich mochte diese Mädchen nicht, die sich als meine Freundinnen
ausgaben. Ich mochte nicht spielen. Die Freundinnen, die meine Eltern mir
aufdrängen wollten, waren größtenteils die Kinder ihrer eigenen handverlesenen
Freunde. Völlig uninteressante Zöglinge, die genauso waren wie ihre Eltern:
falsch, angeberisch, Heulsusen und Petzen.
Ich war sicher kein einfaches Kind, das
gebe ich zu. Meine Eltern träumten von einem braven kleinen Zinnsoldaten,
diszipliniert und mit perfekten Manieren. Ich hingegen war stur wie ein Esel
und wollte nur eins: mich ihnen entziehen.
Mein Zimmer war für mich schon immer
eine Zuflucht gewesen. Schon mit vier oder fünf Jahren, als ich es verlassen
mußte, um in die Schule zu gehen, war ich starr vor Angst. Was würde mir
außerhalb dieser
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