Die Opfer des Inzests
dringend notwendig ist.‹
Man würde mich einsperren wie eine
gemeingefährliche Verrückte! Ich sollte mein Zimmer verlassen, meine geliebten
Bücher, mein Zuhause, meine Lehrerin!
Dann ging mir die positive Seite dieser
Maßnahme auf: Ich würde meinen Vater nicht mehr sehen. Er würde mir nichts mehr
tun können. Ich war gerettet.
Ich war zehn und hatte keine Eltern
mehr, die dieser Bezeichnung würdig gewesen wären.
Mein Exil zu organisieren dauerte
einige Wochen. In dieser Zeit sprach mein Vater kein Wort mit mir. Er wich
meinen anklagenden Blicken aus. Meine Mutter schien sich ebenso unwohl zu
fühlen.
Was mich betraf, so dachte und träumte
ich nicht mehr. Ein Bild hatte sich mit unauslöschlich eingebrannt: mein Vater,
der nackt vor mir stand, einen Ledergürtel in der Hand.
Als alles für meine Abschiebung bereit
war, brachten meine Eltern und meine Großmutter mich im Wagen in eine
benachbarte Stadt. Während der Fahrt sagte niemand ein Wort. Ich begriff, daß
wir am Ziel waren, als wir an hohen Mauern entlangfuhren. Eine
schwarzgekleidete Frau öffnete die beiden Flügel eines verrosteten Tores. Sie
führte uns zum Büro der Oberin.
Der Haupteingang dieses schloßartigen
Bauwerks war prunkvoll und schön. Ich war beeindruckt und eingeschüchtert von
der monumentalen Steintreppe und den Fenstern mit den schmiedeeisernen Baikonen.
Im Inneren überwog dann letztere Empfindung. Mir lief es kalt den Rücken
hinunter, als wir durch den hohen Flur mit den grauen Wänden gingen.
Meine Eltern wurden in das Büro
gebracht, während meiner Großmutter aufgetragen wurde, mich zu beaufsichtigen.
Die Unterhaltung zog sich in die Länge.
Natürlich! Meine Eltern mußten lang und breit die Verfehlungen ihrer unwürdigen
Tochter berichten. Zweifellos beruhigte sie die Mutter Oberin, indem sie die
Vorzüge ihrer Institution hervorhob. Was kümmerte es mich? Würde ich hier
ungestört lernen und lesen können? Das war alles, was mich interessierte. Aber
wie auch immer, das eine war ziemlich sicher: Ich würde nicht das Recht haben,
mich zu beklagen.
Die Tür öffnete sich, und eine Stimme
befahl: ›Treten Sie ein, Mademoiselle!‹
Ich fand mich in einem riesigen Raum
wieder. Nur ein einsames Kruzifix schmückte die beigefarbenen Wände. Die Mutter
Oberin stand vor dem Kreuz. Sie hielt sich sehr gerade und wirkte trotz ihres
kleinen Wuchses imposant. Auf leisen Sohlen schlich ich zu ihr hin. Ich begriff
gleich, warum sie mir angst machte: Sie war robust gebaut, eckig, und ihr
zerfurchtes Gesicht schien zehntausend Jahre nicht mehr gelächelt zu haben.
Mein Vater, meine Mutter und meine
Großmutter, die steif und die Füße dicht beisammen um ihren Schreibtisch
herumsaßen, würdigten mich keines Blickes.
Ich sah mich nach einem freien Stuhl
um, als die Schwester mich anfuhr:
›Mademoiselle, Sie sollten gleich
wissen, daß Sie aufzustehen haben, wenn die Mutter Oberin das Wort an Sie
richtet. Haben Sie das verstanden?‹
Ich saß doch nicht einmal!
›Also, fahren wir fort. Sie sind hier,
um zu lernen und zu beten. Hierbei rate ich Ihnen, niemals die goldenen Regeln
zu vergessen. Sie sind sehr einfach zu verstehen und zu behalten: keine
Zigaretten, kein Alkohol, keine Jungen, kein Ausgang, kein Gequatsche, keine
Streitigkeiten.‹
Ich hörte schon vor Ende der
»Kein«-Litanei nicht mehr zu. Als sie fertig war, schloß sie mit den Worten: ›Sie
schlafen im Schlafsaal A3. Schwester Hélène wird Sie hinbringen.‹
Schwester Hélène war das genaue
Gegenteil der Mutter Oberin: jung und trotz des Schleiers sehr hübsch. Sie
schenkte mir einen sanften, aufmunternden Blick. Zweifellos war ihr die
Begrüßungsrede vertraut.
Während wir das Labyrinth durchquerten,
das zum Schlafsaal führte, versuchte sie, mir das Kloster positiv zu
beschreiben:
›Die Klassenzimmer sind sehr sonnig, du
wirst sehen. Mit Blick auf den Obstgarten. In der Bibliothek warten Tausende
Bücher auf dich. Liest du gern? Hast du Angst? Das ist ganz normal; du bist ja
gerade erst angekommen. Ich bin sicher, daß du dich schnell an dein neues Leben
gewöhnen wirst. Heute begleite ich dich persönlich zum Speisesaal, damit du
dich nicht verläufst^
Sie war seit langem die erste, die mit
mir sprach wie mit einem zehnjährigen Mädchen, wofür ich ihr unendlich dankbar
war.
›Danke, Madame.‹
›Das heißt: Schwester.‹
Sie klang belustigt.
Von diesem Augenblick an wünschte ich
mir Schwester Hélène als Verbündete, als
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