Die Opfer des Inzests
abgestumpft, hin und her gerissen zwischen Furcht und
Abscheu. Aber wenngleich mein Vater das Kind in mir getötet hatte, hatte die
Rebellin in mir noch nicht die Waffen gestreckt. Ihn weiterleben und seine
Rolle als Bilderbuchvater spielen zu sehen, als wäre nichts geschehen,
bestärkte mich in meinem Haß. Auch hatte ich Angst, daß er es wieder tun
könnte. Nach und nach gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich daran ersticken
würde, wenn ich es niemandem erzählte. Jemand mußte mir glauben, dieses
Ungeheuer bestrafen, so wie er es verdient hatte, und ihn vor allem daran
hindern, es noch mal zu tun.
Meine Mutter wunderte sich über meinen
mangelnden Appetit und meine Wortkargheit. Mein Vater meinte dazu:
›So ist Gina doch immer! Was findest du
denn an ihr verändert? Sie schließt sich wie gewöhnlich in ihrem Zimmer ein.
Sie redet nicht mit uns. Ich sehe da keinen Unterschiede
Da mein Vater dies behauptete, ließ
meine Mutter es auf sich beruhen.
Mutter! Sie mußte mich anhören. Sie
mußte einfach! Wem sonst sollte ich mich anvertrauen?
Mein Entschluß stand fest. Jetzt mußte
ich nur noch den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen, die Kraft, die Worte
auszusprechen, um diese alptraumhafte Szene zu beschreiben.
Eines Tages stürzte ich mich ins kalte
Wasser.
›Mama, ich muß dir etwas sagen...‹
›Gut, aber beeil dich. Gleich holt mich
eine Freundin ab. Ich bin noch nicht mal fertig.‹
Ich wäre am liebsten auf mein Zimmer
geflüchtet. Ich wollte schreien, das Kopfkissen über den Kopf gezogen, aber ich
bin über mich selbst hinausgewachsen.
›Mir ist etwas passiert, Mama... Ich
möchte wissen, ob das normal ist.‹
›Was erzählst du denn da? Sprich und
rede nicht um den heißen Brei herum. Ich sagte doch schon, daß ich in Eile bin.‹
›Mama, als Papa mit mir auf dem Boot
des Majors war, an meinem Geburtstag...‹
›Ja, ich erinnere mich. Und?‹
Ich holte tief Luft.
›Also, Papa ist mit mir in eine Kabine
gegangen. Er hat sich ausgezogen. Er hat mir befohlen, mich ebenfalls
auszuziehen und mich auf das Bett zu legen. Er war sehr wütend. Dann hat er
sich auf mich gelegt. Er hat mir sehr weh getan mit seinem...‹
Ich konnte nicht weitersprechen. Ich
warf einen verstohlenen Blick auf meine Mutter. Sie sagte kein Wort. Sie war
sehr blaß, hielt sich sehr gerade, den Blick gesenkt. Dann wandte sie den Kopf
ab. Und da begriff ich: Sie hatte erwartet, eines Tages zu hören, was ich ihr
soeben erzählt hatte.
Wutentbrannt herrschte sie mich an.
›Du gehst auf dein Zimmer und liest,
Gina. Du verläßt dein Zimmer auf gar keinen Fall. Hast du mich verstanden?‹
Zum zweiten Mal tat sich die Erde unter
mir auf.
Während ich auf mein Zimmer verbannt
war, rief meine Mutter den großen Kriegsrat zusammen. Alle wichtigen Mitglieder
der Familie kamen. Welche Ehre für mich, daß um mich ein solcher Wirbel
veranstaltet wurde.
Aus dem Wohnzimmer drang
Stimmengemurmel bis zu mir. Ich war wie erstarrt vor Angst und Haß. Die
Erwachsenen, die ich sowieso schon geringschätzte, hatten jede Konsistenz
verloren. Bis auf jene weiche, ekelerregende der Feigheit. Sie diskutierten
über mein Schicksal. Ein Tribunal richtete über mich. Ich war zehn Jahre alt,
mein Vater hatte mich vergewaltigt, und mir machte man den Prozeß!
Nach zweistündiger Debatte wurde meine
Zimmertür geöffnet. Das Urteil würde verkündet werden. Ich sollte vor meine
Richter treten, um die mir auferlegte Strafe zu hören. Sie waren alle da, sahen
mich an. Ihre Augen sagten: ›Tabu!‹
Ich hatte gegen die Regeln verstoßen.
Ich hatte es an Schamhaftigkeit mangeln lassen. Ich hätte schweigen müssen.
Weil nämlich bei diesen Leuten...
›Gina, wir haben lange diskutiert und
nachgedacht. Wir haben nur eine Lösung gefunden, dich daran zu hindern, die
widerliche Lüge zu verbreiten, die du gewagt hast, über deinen Vater zu
erzählen.‹
Voilà! Er hatte also recht gehabt.
Nicht mir glaubte man, sondern ihm. Zumindest war er derjenige, den man schützte,
um den Schein zu wahren, um diesem perversen Irren Würde und Ansehen zu
erhalten.
›Wir werden dich in eine religiöse
Einrichtung schicken. die strengste, die es gibt. Die Isolation und die
Disziplin werden dich wieder zur Vernunft bringen. Dort wird dir die Lust
vergehen, irgendwelchen Unsinn zu erzählen, um dich interessant zu machen, ohne
Rücksicht darauf, ob du den Ruf deiner Familie ruinierst. Dort wird man dir
gewisse Werte beibringen, was offenbar
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