Die Opfer des Inzests
Lippen kriege. Gehen Sie! Es ist eine Qual für mich, Ihre Fragen
zu beantworten. Lassen Sie mich in Ruhe. Kommen Sie nicht wieder, interessieren
Sie sich nicht länger für mich. Ich bin es wirklich nicht wert.«
»Du irrst dich, Estelle. Du wirst die
Achtung vor dir selbst und anderen wiederfinden. Und du wirst wieder leben
wollen wie alle jungen Mädchen deines Alters. Ich verspreche es dir. Ruh dich
aus. Aber ich werde dich nicht fallen lassen.«
An diesem Morgen wartet Estelle.
Hoffentlich kommt der Psychiater auch wirklich wieder! Er hatte alles
verstanden, dafür würde sie die Hand ins Feuer legen. Und er hatte keine
Reaktion gezeigt, hatte sie nicht verachtet, sie, die sich selbst das Recht
aberkannt hatte zu leben. Es stimmt, daß sie sich erleichtert fühlt. Das ist
neu und so angenehm. Es ist so lange her, seit sie das letzte Mal einem
Erwachsenen vertraut hat.
»Guten Tag, Estelle. Sei mir nicht
böse: Ich bin da. Wenn du mich nicht sehen willst, gehe ich wieder. Aber ich
denke, wir beide sind zu weit gekommen, als daß du jetzt noch davonlaufen
könntest. Das Schwierigste hast du hinter dir. Gib nicht mittendrin auf, bitte.
Du brauchst dich nicht vor dem Urteil anderer zu fürchten. Du hast dir nichts
zuschulden kommen lassen. Du bist krank geworden, weil du zuviel gelitten hast,
das ist alles. Du mußt die Klinik geheilt verlassen, von deiner Last befreit.
Zögere nicht, sie auf mich abzuwälzen. Dazu bin ich da.«
»Ich glaube Ihnen. Ich werde es
versuchen. Es ist so kompliziert. Es gibt da einen Tag, an den ich nicht
zurückdenken möchte. Und noch andere. Viele andere, die mir panische Angst
machen. Eines Tages... ich muß 12 oder 13 gewesen sein... wurde mein Vater von
seiner Firma für mehrere Monate nach Afrika geschickt. Er hatte es mir als
Beförderung dargestellt, die er nicht ablehnen könne, und mir versprochen, mich
bald zu sich zu holen. Wir sollten nicht lange getrennt sein. Bis dahin gab er
mich in die Obhut meiner Großeltern. Das war nur logisch. Einige Zeit rief er
mich zweimal wöchentlich an und sagte immer das gleiche: ›Bald ist alles
bereit, dann kann ich dich zu mir holen, meine Kleine.‹ Dann rief er immer
seltener an: einmal die Woche, einmal im Monat... Er sprach nicht mehr davon,
mich zu sich zu holen. Nie mehr...«
»Hast du denn keine Erklärung von ihm
verlangt?«
»Nein, er sprach immer nur von seiner
Arbeit, ich hatte mich bei meinen Großeltern eingelebt. Ich fühlte mich recht
wohl dort. Bis...«
»Weiter, Estelle.«
»Eines Tages... Ich war im Bad und zog
mich aus, während ich das Badewasser einlaufen ließ. Ich hörte nicht, wie die
Tür geöffnet wurde.«
Estelle schluckt, schließt die Augen.
»Weiter, Estelle.«
»Als ich spürte, daß ich nicht allein
war, fuhr ich herum. Es war mein Großvater. Er musterte mich von Kopf bis Fuß.
Mich, ganz klein und nackt. Er riesig, mit einem sonderbaren Ausdruck in den
Augen. Er sagte, er müsse sich in jeder Hinsicht um mich kümmern, damit ich
weniger traurig wäre. Ich schrie. Er wurde so böse, wie ich ihn noch nie erlebt
hatte, und drohte, mich in ein Waisenhaus zu stecken, wenn ich ihm nicht
gehorchte. Ich war verloren. Ich wußte nicht mehr, was die Welt der Kinder und
die der Erwachsenen war. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich wollte nur,
daß meine Großmutter uns nicht hörte und mein Vater niemals etwas von dieser
Szene erfuhr. Von da an lebte ich in der ständigen Furcht davor, daß es sich
wiederholte.«
»Und so kam es dann auch?«
»Ja, er tat es wieder«, murmelt
Estelle. »Mein Großvater kam irgendwann in der Nacht in mein Zimmer. Ich verlor
den Boden unter den Füßen. Jedesmal, wenn mein Vater anrief, weinte ich und
brüllte: ›Hol mich hier weg! Hol mich hier weg!‹ Mehr konnte ich nicht sagen.
Er versuchte, mich zur Vernunft zu bringen, und manchmal wurde er auch böse.«
»Warum hast du ihm nicht die Wahrheit
gesagt? Dann hätte er dich sicher nicht bei deinem Großvater gelassen.«
»Ihm sagen, was sein eigener Vater mir
antat? Undenkbar. Und dann auch noch am Telefon. Dazu war ich nicht fähig, und
das wußte mein Großvater wohl.«
»Ist dir nie der Gedanke gekommen, es
wäre vielleicht leichter, deinem Vater davon zu schreiben?«
»Ich habe es Dutzende Male versucht.
Diese Worte... Ich schaffte es nicht. Und auch wenn ich es geschafft hätte,
glaube ich nicht, daß ich den Brief je eingeworfen hätte. Ich bin wortlos
untergegangen. Ich sprach mit niemandem mehr, ich
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