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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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sein. Alex wird keinen Zentimeter nachgeben. Da mir nichts anderes
mehr einfällt, stelle ich fast automatisch eine letzte Frage.
    »Und was ist mit deiner Mutter?«
    »Meine Eltern haben sich vor Jahren
getrennt. Für mich waren sie nie wirklich ein Paar. Ich finde, daß Papa sehr
lieb zu ihr war. Er hat sie erst verlassen, als sie soweit war, allein zurecht
zu kommen. Er hat seine Pflicht getan. Das Leben muß zeitweise sehr hart für
ihn gewesen sein.«
    Ich möchte hinzufügen »Für sie auch«,
verkneife es mir aber. Alexandra ist für mich unerreichbar, gefangen in ihrer
Geschichte, hinter ihren Schutzwällen verschanzt. Ich könnte sie stundenlang
schütteln wie einen Pflaumenbaum, ihr tausendmal wiederholen »Es ist falsch! Es
ist falsch!«, ohne etwas zu erreichen.
     
    Ich habe es vorgezogen, Alexandra aus
meinen Gedanken und aus meinem Leben zu verbannen. Ich habe meine Termine auf
einen anderen Wochentag legen lassen. Ich habe die Gründe hierfür sogar meinem
Psychiater erklärt, damit er eine neuerliche Begegnung vermeidet. Aber dieses
Mädchen geistert immer noch in meinem Kopf herum. Beharrlich und störend. Wie
eine Kränkung.

__________Estelle__________
     
     
     
     
    »Estelle, beruhige dich, dieses Theater
ist doch unsinnig!«
    Der alte Mann legt die Stirn in Falten,
gestikuliert mit den Armen, dreht sich im Kreis, hilflos, da er nicht an die
Furie herankommt, die in rasender Wut mit den Fäusten auf die Wohnzimmerwand
einhämmert. Schon zeigen sich auf dem Rankenmuster der altmodischen Tapete Nagelspuren.
    Der 15jährigen Estelle klebt das blonde
Haar im Gesicht, und sie zittert wie Espenlaub. Nichts scheint die Zuckungen
dieses zierlichen Körpers stoppen zu können.
    Jetzt brüllt sie und tritt nach allen
Seiten:
    »Faß mich nicht an, Großvater! Geh weg!
Ich hasse dich! Ich hasse euch alle!«
    »Das ist ja unglaublich!« schimpft ihre
Großmutter. »Dein Benehmen ist unmöglich! Wir kümmern uns um dich, seit dein
Vater weggegangen ist, und das ist der Dank? Du redest nur mit uns, wenn es
unvermeidlich ist. Du weigerst dich zu essen, und wenn wir versuchen, dich zur
Vernunft zu bringen, reagierst du immer gleich: mit einem Nervenzusammenbruch!
Wenn du nicht gleich in Ohnmacht fällst! Wir dachten, du wärst krank:
vielleicht die Folge des Todes deiner Mutter. Aber dieses Unglück liegt jetzt
vier Jahre zurück, und es schien doch, als hättest du wieder Geschmack am Leben
gefunden. Im übrigen fehlt dir nichts, das hat der Arzt bestätigt. Wir werden
noch glauben, du wärst verrückt, mein kleines Mädchen!«
    »Verrückt! Verrückt!« grummelt der
großgewachsene alte Mann und verläßt das Zimmer.
    Vom Nebenzimmer aus ruft er an.
    »Ist da das Krankenhaus? Schicken Sie
bitte schnell einen Krankenwagen. Meine Enkelin hat einen Tobsuchtsanfall.«
    Im Hof des Krankenhauses tragen die
Sanitäter Estelle auf einer Trage zwischen den Beeten mit verblühten Blumen
hindurch. Sie haben sie in eine Zwangsjacke gesteckt. Dabei hat sie den Kampf
längst aufgegeben. Das Beruhigungsmittel, das man ihr bei den Großeltern
verabreicht hatte, bevor man sie in den Krankenwagen lud, hatte nicht
unerheblich dazu beigetragen. Den Rest haben Erschöpfung und Entmutigung
besorgt.
    Man legt das unförmige Paket auf ein
Bett mit Rollen. Das Schlingern ist zu stark. Estelle schlägt die Augen auf.
Ihre gewöhnlich strahlendblauen Augen wirken erloschen, tot, leer. Ihr Blick
bleibt weder auf den Gesichtem haften, die um sie herumtanzen, noch auf den
verblaßten Plakaten an den vorbeihuschenden Wänden. Das grelle Licht der
Deckenbeleuchtung blendet sie und zwingt sie, mühsam zu blinzeln. Türen werden
krachend aufgestoßen, weiße Kittel streifen sie. Die Berührung des gestärkten
Stoffes ist ihr unangenehm.
    Das Stimmengemurmel wird plötzlich
gedämpft. Estelle befindet sich in einem Fahrstuhl. Die Fahrt nach oben nimmt
kein Ende, und ihr dreht sich der Magen um. Wenn sie sich doch nur bewegen
könnte!
    Das Geräusch einer leise aufgleitenden
Tür. Wieder das Schnurren der Rollen auf Linoleum. Gerüche wehen vorbei. Nach
Alkohol, Urin, Tod. Unter den Fingern fühlt Estelle den rauhen Stoff ihres
engen, beklemmenden Gefängnisses. Wann wird dieser Alptraum endlich ein Ende
haben?
    Ihre Rolltrage wird durch eine Tür
geschoben, hält an.
    »Ihr Zimmer!« sagt eine ausdruckslose
Stimme.
    Das Zimmer kommt ihr kalt vor. Ebenso
das Bett, auf das man sie wenig behutsam legt. Ein schmales Bett mit harter
Matratze und

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