Die Opfer des Inzests
Metallgestell.
Zwei Krankenschwestern inspizieren
jeden Winkel des Zimmers. Was suchen sie? Was fürchten sie? Daß Estelle sich
das Leben nehmen könnte, falls ihr ein geeignetes Hilfsmittel in die Hände
fiele? Aber nein, dazu war sie gar nicht in der Lage. Dazu fehlte ihr die
Kraft. Der Mut. Der Wunsch.
Langsam läßt das Mädchen den Blick
durch den Raum schweifen. Ein Waschbecken und eine Toilette in einer Ecke. Ein
Plastikstuhl vor dem Fenster, dessen Kathedralglas die blassen Sonnenstrahlen
dieses Wintermorgens filterte. Sonst nichts. Eine Welt, so nackt wie ihre
Verzweiflung.
Endlich. Die Krankenschwestern machen
sich daran, Estelle zu befreien. Ihre steifen Glieder können sich nur schwer
entspannen. Ein Bein bewegen... es wiegt drei Tonnen. Den Arm heben... es kommt
ihr vor, als wäre er aus Stahl. Übermenschliche Anstrengungen. Estelle ist so
erschöpft, daß sie nach diesen wenigen Versuchen wieder in einen von düsteren
Träumen gestörten Schlaf fällt. Ein Wald... es ist Nacht... das junge Mädchen
möchte davonlaufen, aber seine Knie lassen sich nicht beugen. Es stürzt,
versucht, über das feuchte Laub zu kriechen. Plötzlich reißt die Erde mit einem
entsetzlichen Krachen auf. Kein Ast, nichts, woran es sich festhalten könnte.
Ein gähnender, bodenloser Abgrund verschluckt Estelles verrenkten Körper.
Niemand kommt, als sie beim Aufwachen
brüllt vor Entsetzen. Sie möchte aufstehen, sich den Schweiß vom Gesicht
waschen, der ihre Stirn bedeckt und in ihren Augen brennt. Kein Handtuch in der
Waschecke. Sie möchte sich das unförmige Krankenhausnachthemd, das klamm vom
Schweiß ist, ausziehen und in weiche Unterwäsche schlüpfen. Früher hat ihre
Mutter sie so getröstet, wenn sie einen Alptraum hatte. Zwei dicke Küsse, ein
Streicheln über ihre Stirn und ein frischer Schlafanzug, in den diese sanfte
Frau den fiebrigen Körper ihrer kleinen Tochter hüllte, und Estelle schlief
befreit wieder ein.
»Mama, Mama, komm mich holen...«
Seit einer Woche kommt täglich ein Mann
und setzt sich an Estelles Bett.
»Ich bin Psychiater, du kannst ganz
frei mit mir sprechen. Du mußt dich befreien, Estelle. Etwas erstickt dich,
erdrückt dich. Du kannst eine solche Last nicht in dir behalten. Vertrau mir,
und du wirst wieder gesund, Estelle.«
Estelle hört die Worte, ohne sie
aufzunehmen, ohne jede Reaktion. Abwesend.
Der Mann bedrängt sie nicht und zieht
sich leise zurück.
Heute hat die Kranke zum erstenmal den
Wunsch herauszufinden, wer diese Worte sagt, die so freundschaftlich klingen.
Sie richtet sich in ihrem Bett auf, stützt sich gegen das Kopfkissen.
Der Mann ist noch jung, groß, mit
rundem Gesicht und sympathischen Zügen. Sein offener, besänftigender Blick ist
sehr aufmerksam. Sein braunes, lockiges Haar bewegt sich leicht, als er spricht:
»Guten Tag, Estelle. Du bist also
endlich bereit, mich anzuhören. Das freut mich wirklich sehr. Ich bin hier, um
dir zu helfen. Ich weiß, daß du Probleme hast und es dir schwer fällt, über das
zu sprechen, was dich quält. Aber du wirst sehen, zu zweit ist es leichter. Du
wirst es schaffen. Willst du es versuchen?«
»Ich habe keine Lust zu reden...«
Estelle hat seit Tagen kein Wort mehr
gesagt. Überrascht lauscht sie dem Timbre ihrer Stimme, die sie kaum
wiedererkennt. Zu heiser, um ihre eigene Stimme zu sein. Metallisch, brüchig.
Sie versucht es noch mal.
»Warum stellen Sie mir Fragen?«
Ja, sie ist es, die diesen Satz sagt.
Aber was sollte sie noch sagen?
»Wenn du dich weiter in deinem Schmerz
einschließt, wirst du es nie schaffen, da rauszukommen, Estelle. Die einzige
Lösung ist die Kommunikation. Gib dir einen Ruck, bitte. Ich versichere dir,
daß du dich hinterher besser fühlen wirst.«
Der Mann lächelte aufmunternd.
Vergebliche Mühe. Sie fühlt sich so distanziert.
»Das könnte ich niemals. Nein, das
schaffe ich nie. Sie können ja nicht wissen...«
»Doch, ich kann... ich kann dir sogar
helfen. Du mußt nur daran glauben, meine Kleine...«
»Unmöglich! Überhaupt stecken die Worte
in mir fest. Sie werden nicht rauskommen, klar? Das ist doch nicht so schwer zu
verstehen, oder?« regt Estelle sich auf.
»Weißt du, ich verlange gar nicht von
dir, daß du mir gleich heute dein ganzes Leben erzählst. Wir haben Zeit. Zeit,
uns kennenzulernen. Zum Beispiel...wie alt bist du?«
»Fünfzehn.«
»Gehst du zur Schule?«
»Seit einigen Monaten nicht mehr.«
»Und warum, Estelle?«
»Die Lehrer haben mir
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