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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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vorgeworfen,
nicht am Unterricht teilzunehmen. Sie haben mich andauernd nur ausgeschimpft.
Sie erteilten mir Befehle, drohten mir. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie
schreien und auf mir herumhacken zu hören. Ich wollte ihnen nicht mehr
gehorchen.«
    »Und warum wolltest du nicht mehr
gehorchen? Warum haben die Befehle dich so schockiert?«
    Estelle wendet den Blick ab und sieht
zum Fenster. Sie preßt die Lippen so fest aufeinander, daß sie sich weiß
verfärben.
    Der Mann versucht es noch mal.
    »Wer hat dir außer den Lehrern noch
Unerträgliches befohlen? Wer hat dir gedroht?«
    Estelle hört sich leise antworten.
    »Mein Großvater. Mein Großvater, den
ich hasse. So, sind Sie jetzt zufrieden?«
    Estelle bricht in Tränen aus und
vergräbt das Gesicht im Kopfkissen. Eine Hand streichelt ihr Haar.
    »Ruh dich aus. Wir belassen es für
heute dabei. Ich komme morgen früh wieder, und dann setzen wir unsere
Unterhaltung fort, wenn es dir recht ist.«
    Estelle nickt. Ja, es ist ihr recht. O
ja! Das Entsetzen muß aus ihr heraus. Sie ist müde, sie hat Kopfschmerzen, ihre
Erinnerung schmerzt. Aber es muß alles raus. Drei Jahre hat sie eingeschlossen
in ihrem Geheimnis gelebt. Drei Jahre hat sie geschwiegen, geknebelt. Vielleicht
hatte sie nicht mehr das Recht zu leben, wenn sie redete... Aber das Dasein,
das sie die letzten drei Jahre geführt hat, ist kein Leben mehr. Was spielte es
also für eine Rolle? Sie würde reden. Sie würde alles sagen.
    »Estelle, erzähl mir von deinem Großvater,
ja? Warum wohnst du bei ihm?«
    Er ist wieder da. Der Psychiater und
seine gräßlichen Fragen. Estelle hatte gehofft, er würde nicht kommen. Es geht
ihr gar nicht so schlecht in diesem Bett. Allein, ganz allein. Isoliert von
ihrer Familie und der Welt. Warum verlangt man von ihr zu reden? Warum muß sie
sich den Schmerz, die Scham in Erinnerung rufen? Wenn sie sie doch nur in
Frieden lassen würden!
    Und wenn Reden ihr wirklich helfen
könnte, aus dem Tunnel herauszukommen? Wenn der Psychiater recht hätte?
    »Meine Mutter ist vor vier Jahren an
Krebs gestorben. Ich war sehr traurig, aber mir war am Anfang nicht klar, wie
sehr sie mir fehlen würde. Sie war die Sanftheit und Zärtlichkeit in Person.
Ich hätte mir nie vorstellen können, daß das eines Tages aufhören könnte.
Gleich als die ersten Symptome ihrer Krankheit auftraten, wußte ich, daß es ernst
war. Ich wollte keine Minute mehr von Mama getrennt sein. Ich habe mich bis
zuletzt an sie geklammert und gehofft, sie würde doch noch gerettet werden.
Eine neue Behandlungsmethode. Ich las sämtliche medizinischen Fachblätter. Ich
vergrub mich auch in weniger wissenschaftlichen Geschichten, die von
unerklärlichen Heilungen berichteten. Meine Mutter würde zu den Auserwählten
gehören, die gesundeten, nachdem sie bereits ihr Testament verfaßt hatten. Man
konnte sie mir nicht wegnehmen. Ich brauchte sie noch so sehr. Als sie trotz
meiner Gebete und meiner Versprechungen an Gott, immer brav zu sein, starb,
hatte ich einen Haß auf die ganze Welt. Mein Vater war ebenso verzweifelt wie
ich. Monatelang haben wir oft gemeinsam geweint. Dann stürzte er sich wieder in
die Arbeit, ging wieder auf Geschäftsreisen. Er stellte eine Frau ein, die sich
um mich, seine Angelegenheiten und das große Haus kümmern sollte.«
    Estelle ist überrascht, wie leicht es
ihr gefallen ist, das zu erzählen. Und doch liegt jetzt ein eiserner Ring um
ihre Brust und hindert sie daran fortzufahren.
    »Erzähl weiter, Estelle. Du weißt ja
jetzt, daß Reden dich erleichtert. Hör nicht auf deine Angst.«
     
    »Diese Frau war sehr streng, häßlich.
Ich konnte sie nicht leiden, und doch mußte ich nach der Schule mit ihr
zusammen sein. Mit ihr langweilte ich mich am Wochenende, wenn Papa von
Berufswegen im Ausland war. Und da meine Großeltern väterlicherseits in der
Nähe wohnten, flüchtete ich zu ihnen. Meine Großmutter hatte mir nie große
Zuneigung entgegengebracht, aber das war mir egal: Ich wollte gar nicht, daß
jemand versuchte, meine Mama zu ersetzen. Mein Großvater verstand es, mich zum
Lachen zu bringen. Er erzählte mir Geschichten, ging mit mir spazieren. Ich war
beinahe glücklich. Ich besuchte ihn immer öfter, damit er mich tröstete und
ablenkte. Er half mir, meine Trauer zu vergessen.«
    Estelle verzieht angewidert das
Gesicht.
    »Niemals hätte ich mir träumen lassen,
was in seinem Kopf vorging. Wie soll ich sagen? Es gibt Worte, die ich einfach
nicht über die

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