Die Opfer des Inzests
aß nicht mehr, in der
Hoffnung, daß mein widerlicher Großvater, wenn er mich in diesem Zustand sah,
nicht mehr wagen würde, mich anzurühren. Aber es hat alles nichts genutzt. Ich
weinte nur noch und mußte mich übergeben, sobald ich die geringste Nahrung zu
mir nehmen mußte.«
»Und deine Großmutter? Hat sie denn
nichts bemerkt?«
»Meine Großmutter hatte Mitleid mit
mir. Das war mir noch unerträglicher. Plötzlich zeigte sie Zuneigung mir
gegenüber. Sie versuchte, mich in die Arme zu nehmen, um mich zu trösten. Sie
dachte, ich würde noch um meine Mutter trauern. Ich stieß sie zurück, und sie
verstand meine Reaktion nicht. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich
dachte, ich würde verrückt. Vermutlich bin ich es wirklich geworden. Und dann
brachte man mich hierher. Das Krankenhaus erschien mir grauenhaft,
unmenschlich, aber vermutlich war das das Beste, was mir passieren konnte.«
»Was würde dir jetzt Freude machen,
Estelle? Denk gut nach...«
Freude? Diese Empfindung hat Estelle
vergessen. Freude? Plötzlich steigt ein Bedürfnis in ihr auf, sehr stark,
unwiderstehlich, all ihre Ängste verdrängend.
»Ich möchte meinen Vater sehen. Ich
möchte, daß er mich wegbringt, weit fort von hier. Wenn ich ihn wiederfinde,
werde ich wieder gesund.«
Vielleicht ist Estelle geheilt. Aber
kann man jemals ganz vom Inzest genesen? Sie wurde aus dem Krankenhaus
entlassen. Ihr Vater holte sie dort ab. Ihr Vater, der sich noch lange schuldig
fühlen wird wegen des Martyriums, das er seiner Tochter auferlegt hat. Ihr
Vater, der sich nie verzeihen wird, die Hilferufe Estelles nicht verstanden zu
haben, und der darüber hinaus darunter leidet, einen Menschen aus seinem Leben streichen
zu müssen, den er bis dahin sehr geliebt hat, seinen eigenen Vater, der sich
der schrecklichsten Infamie schuldig gemacht hat.
Nachdem er den alten Mann wegen
»Vergewaltigung einer minderjährigen Blutsverwandten« angezeigt hatte, nahm er
Estelle mit nach Afrika. Dort unterzog sie sich einer langen, mühsamen
Psychotherapie.
Am Ende des Prozesses, dem zwei Jahre
der Ermittlungen vorangegangen waren, wurde der grausame Großvater zu fünf
Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Geschworenen gestanden ihm mildernde
Umstände zu.
__________Sabine__________
Sabine hat darauf bestanden, die Namen
der Personen ihrer Geschichte zu ändern, jedoch nicht die Ortsnamen, damit die
Authentizität der Ereignisse gewahrt bleibt.
Sie widmet ihr Zeugnis ihrer
Pflegefamilie.
Sabine sitzt in einem sonnigen Zimmer
in Bayonne, ihr Kind in den Armen. Ein winziges vier Monate altes Baby, das
lächelt, brabbelt und aus seinen großen hellen Augen das Licht betrachtet, das
durch die Vorhänge fällt. Ein Wunderkind, ein gesegnetes Kind, ein Kind der
Hoffnung.
»Die Geburt Davids war auch ein wenig
die meine. Ich bin 26 Jahre alt, und es kommt mir vor, als hätte mein Leben,
mein wahres Leben, gerade erst begonnen. Bis zu meinem 16. Lebensjahr war meine
Kindheit die reinste Hölle. Ganz langsam und unter großen Anstrengungen ist es
mir gelungen, aus dem Abgrund aufzusteigen. Jetzt möchte ich nur noch an unser
zukünftiges Glück denken. Wir sind eine glückliche Familie, William, mein Mann,
David und ich. Ich werde alles tun, daß es auch so bleibt. Ich hoffe, daß wir noch
mehr Kinder bekommen werden. Ich werde sie zu schützen wissen. Das Grauen liegt
jetzt weit hinter mir, auch wenn ich immer noch das Bedürfnis habe, darüber zu
sprechen, weil Haß und Abscheu mir immer noch das Herz zuschnüren.«
Um ihre Geschichte verständlich zu
machen, greift Sabine weit zurück.
»Ich habe in meinem Umfeld
nachgeforscht, habe meine Mutter mit Fragen über ihre Vergangenheit und die
meines Vaters gelöchert. Ich habe daraus geschlossen, daß der Inzest in meinem
Fall kein Zufall war. Als wäre es mir bei meiner Geburt und schon davor so
bestimmt gewesen. Eine Verkettung von Gegebenheiten hat einen familiären
Zerfall bewirkt, im Zuge dessen alles möglich war. Der Inzest ist die
schlimmste Form der Gewalt, die mein Vater mir und meiner Schwester angetan
hat. Aber er hat uns auch noch auf andere Art gebrochen, so wie meine Mutter
und meine Brüder.«
Sabine beginnt mit ihrer Erzählung.
Minutiös und präzise. Ihr Gedächtnis scheint deutlich wie eine Fotografie. Sie
erzählt ohne Pause.
»Annette, meine Mutter, und Martine,
meine Tante, waren vier und sechs Jahre alt, als ihre Mutter sie vor der Tür
eines
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