Die Opferstaette
man nicht gut«, rief er Zitaras hinterher.
»Wie wahr«, flüsterte Sally und machte mir Zeichen, dass sie bleiben würde, um ihn zum Kilkee Bay Hotel zurückzubringen, in dem sie wohnten. Wenn er am nächsten Morgen zu tauchen beabsichtigte, hätte er streng genommen gar nichts mehr trinken sollen.
Ich sagte gerade Gute Nacht und dankte Mahon für die Einladung zum Essen, als Gus Carmody mit seinem Brandy kam. Carmody drückte sich herum, machte Costellos Platz sauber, schob seinen Stuhl unter den Tisch. Als ich zu Ende gesprochen hatte, sagte er zu Mahon: »Das Eisen in diesem überwachsenen Wrackteil wird wahrscheinlich verrostet sein. Anders ausgedrückt, es ist hohl und kann jeden Moment zerfallen – ihr müsstet vorsichtig sein.« Er mied absichtlich das Thema Lena Morrison.
»Ich verstehe, was du sagen willst, Gus«, sagte Mahon. »Mach dir keine Sorgen.«
Ich stand auf, um zu gehen.
»Hat Ihnen Ihr Spaziergang auf den Klippen heute Morgen gefallen?«, fragte Carmody. Er bezog sich auf unsere Unterhaltung, bevor die Polizei gekommen war.
»Ja. Ich bin bis Bishop’s Island gegangen. Dabei fällt mir ein …« Ich wandte mich den beiden anderen zu. »Ich würde gern einen Hubschrauber mieten, der mich auf die Insel bringt, wenn es nicht zu teuer ist. Haben Sie da irgendwelche Kontakte?«
Mahon verwies mich zurück an Carmody. »Da kann Gus Ihnen helfen.«
»Barry McGann«, sagte Carmody und begleitete mich zur
Tür. »Ein Freund von Michael. Hat einen Sechssitzer am Shannon Airport stehen. Ich kann nicht garantieren, dass es billig ist, aber rufen Sie ihn morgen früh an, dann sehen Sie selbst.« Er kritzelte etwas auf seinen Block und riss die Seite ab, die er dann ordentlich faltete und mir gab. »Passen Sie in der Zwischenzeit gut auf bei den Klippen da oben. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Ich dankte ihm und warf beim Verlassen des Speisesaals einen Blick durch den Eingang der Küche. Zitaras und Michael Carmody wurden davon eingerahmt wie Figuren in einem Gemälde Vermeers. Michael saß auf einem Hocker und beugte sich über einen Tisch; sein Gesicht war gerötet, und er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Zitaras stand, mit einer Haut blass wie eine geschälte Zwiebel, hinter ihm und sah ausdruckslos zu mir heraus.
Ich stand am Balkongeländer vor meinem unbeleuchteten Hotelzimmer und sah auf die friedlichen Wasser der Bucht hinaus, der Bogen der gelben Lampen an der Uferpromenade spiegelte sich auf der Oberfläche wie Edelsteine um den Rand eines dunklen Spiegels. Kilkees sanft ansteigende Bucht hat bei Ebbe wenig Wasser zu bieten, es ist deshalb kein Handelshafen; es lagen auch keine Fischereiboote an der Pier zu meiner Rechten vertäut, selbst ein Yachthafen mit einem Wald aus Masten fehlte. Auf der Innenseite der Pier war eine Rutsche, die vom Rettungsboot Kilkees benutzt wurde und über die Taucher ihre Schlauchboote zu Wasser ließen. Ein kurzes Stück außerhalb tanzte eine Ansammlung von Hummerbooten und kleinen Freizeitbooten an ihren Ankern auf und ab.
Ich überlegte, dass ein Schiff in Schwierigkeiten heutzutage binnen Minuten vom Seenotrettungsboot oder einem Hubschrauber aus Shannon erreicht würde, um die Menschen an
Bord in Sicherheit zu bringen. Bei diesem Gedanken fiel mir die Frage ein, die ich nicht hatte formulieren können, als Kim und ich im Long Dock mit Mahon und Costello geredet hatten: Hatte es 1836 einen Leuchtturm an der Spitze der Halbinsel gegeben, der den Kapitän der Intrinsic in die relative Sicherheit der Flussmündung geleitet hätte? War er aus diesem Grund das Risiko eingegangen, sich in jener Nacht der Küste zu nähern – weil er das Licht am Loop Head sehen wollte?
Ich nahm mir vor, es irgendwann nachzuschlagen. Dann setzte ich mich auf meinen halbdunklen Balkon und ging alles durch, was ich im Restaurant gesehen und gehört hatte. Die Identifizierung von Lena Morrison bedeutete für ihre Familie einen Abschluss, allerdings auch neues Leid. Galt für die Leute, die nach ihr gesucht hatten, das Gleiche? Oder gab es andere Gründe, warum ihr Verschwinden und nun heute Abend die Bestätigung, dass sie ermordet worden war, eine solche Wirkung auf sie hatte?
Es war zu spät, um Kim anzurufen. Ich hatte noch immer nichts von ihr gehört, aber dann fiel mir ein, dass ich mein Handy ja nicht benutzte und dass ich nicht wissen konnte, ob sie in meinem Hotelzimmer angerufen hatte, da es keinen Anrufbeantworter gab.
Ich wollte gerade ins Zimmer
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