Die Opferstaette
gehen und Licht machen, als ich unten am Strand jemanden bemerkte, der am Hotel vorbeiging. Abendliche Spaziergänger waren bei schönem Wetter nichts Ungewöhnliches, aber dieser Mann ging nicht spazieren. Er schritt entschlossen und mit gebeugtem Kopf aus. Es war Jonas Zitaras, der Kellner des Crabshell. Ich sah, wie er der Biegung des Strands knapp oberhalb der Flutlinie folgte. Er hielt Abstand zu den Lichtern der Promenade. Dann bemerkte ich eine Gestalt, die von dort oben kam und auf einen Punkt am Strand vor Zitaras zusteuerte. Bei dem wenigen
Licht und der Entfernung konnte ich nicht mit Sicherheit ausmachen, ob sie sich tatsächlich trafen. Zu spät fiel mir das Fernglas ein, und bis ich es auf die Stelle gerichtet hatte, war niemand mehr zu sehen. Dahinter war nur Dunkelheit.
9
A m nächsten Morgen schaltete ich meinen Laptop wieder ein. Sobald ich eine Internetverbindung hatte, begann ich, nach Medienberichten über Lena Morrisons Verschwinden vor fünf Jahren zu suchen. Es gab nicht viel, ein paar knappe Zeilen hier und dort in den Tagen, nachdem man sie zuletzt gesehen hatte, was offenbar an einem Sonntagabend der Fall gewesen war. Der umfangreichste Artikel stammte aus dem Irish Examiner und war am darauffolgenden Donnerstag veröffentlicht worden.
VERBRECHEN IM FALL DER VERSCHWUNDENEN AUSGESCHLOSSEN
Die Polizei gibt an, in Zusammenhang mit dem Verschwinden einer jungen Frau am Wochenende nicht nach einem Verdächtigen zu suchen. Die dreiundzwanzigjährige Musikstudentin Lena Morrison war zuletzt gesehen worden, als sie in Richtung des Lookout Cliffs ging, dem höchsten Punkt in der Gegend. Suchkräfte fanden seither einen Gegenstand aus ihrem persönlichen Besitz, der von der vermissten Frau offenbar in der Nähe des Kliffs zurückgelassen wurde. Trotz einer ausgedehnten Suche wurde keine Leiche gefunden. Schlechter werdendes Wetter wird die Taucher voraussichtlich in den nächsten Tagen behindern; ohnehin ist das Gebiet für raue Bedingungen
berüchtigt. Die Rettungsdienste haben in den letzten Jahren einen dramatischen Anstieg tödlicher Stürze von den Klippen an der Küste Clares verzeichnet.
Selbstmord wurde nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch angedeutet. Es gab keinen Hinweis darauf, worum es sich bei dem »Gegenstand aus dem persönlichen Besitz« handelte.
Eine Stunde später beendete ich gerade mein Frühstück und las in der aktuellen Ausgabe derselben Zeitung über Lena Morrison. Eine Kellnerin, die vorbeikam, bemerkte ihr Bild, als ich die Zeitung umblätterte.
»Sehr traurig, nicht wahr?«, sagte sie und blieb stehen, um meinen Teller abzuräumen.
Wir betrachteten das Foto gemeinsam.
Lena stand an ein Piano gelehnt, sie war schlank und hübsch, mit langen dunklen Haaren. Eine ihrer hochhackigen Sandalen hatte sie auf den Klavierhocker gestellt und den Rock ihres sittsamen schwarzen Kostüms provozierend übers Knie geschoben. Aus dem Bericht erfuhr ich, dass Lena an der Universität von Limerick studiert hatte und eine halbprofessionelle Sängerin und Pianistin gewesen war. Das Foto war ein PR-Bild, das sie kurz vor ihrem Verschwinden aufnehmen ließ. In dem Bericht wurde spekuliert, ihre Leiche sei in einem flachen Grab in der Nähe des Muschelhaufens verscharrt worden, aber Aasfresser hätten das Skelett wahrscheinlich freigelegt und in der Gegend verteilt.
Die Kellnerin beugte sich mit ihrem Stapel Geschirr verschwörerisch zu mir herunter und flüsterte: »Die Frau dort drüben arbeitet an dem Fall. Sie waren gestern bis spät in der Nacht in der Flussmündung draußen.«
Ich blickte in die Richtung, in die sie mit dem Ellbogen wies. Die Frau, um die es ging, war anscheinend in den Speisesaal
gekommen, während ich die Zeitung gelesen hatte, und wartete nun auf ihr Frühstück. Ich erkannte das scharf geschnittene Profil. Ich hatte es gerade auf einem Foto gesehen. Ich wendete die Zeitung, um mich zu vergewissern. »Die forensische Archäologin Nuala Langan berät die Polizei bei der Suche nach den sterblichen Überresten von Lena Morrison.«
Ich ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen. Auf dem Weg zum Ausgang blieb ich bei der Frau stehen, erklärte, wer ich war und dass ich beim Fund des Unterkiefers dabei gewesen sei.
»Setzen Sie sich doch bitte für einen Augenblick«, sagte Langan. »Ich glaube, Ihr Name taucht in dem Bericht über die Befragung von Mr. Mahon auf. Ich würde gern Ihre Version darüber hören, wie Sie auf das Skelettfragment gestoßen sind.«
Sie
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