Die Opferstaette
Stichwort.
»Fahren Sie fort.«
»Ich weiß nur, was ich als Kind von meiner Großmutter gehört habe. Es geht auf die Zeit der großen Hungersnot zurück. Bis dahin war der Stein auf der Landspitze gestanden und von den Leuten in der Gegend sehr verehrt worden. Sie bezeichneten ihn als ›Gottesstein‹, und sie besiegelten Geschäfte, indem sie sich die Hände durch ihn hindurch schüttelten, was auch Paare einschloss, die heiraten wollten. Man glaubte außerdem, er besäße die Fähigkeit, Mensch und Tier zu heilen. Aber er hatte auch eine dunkle Seite an sich, es hieß nämlich, er könne Stürme auf See auslösen. Jedenfalls gab es nach der Hungersnot eine große Kampagne, die Leute in diesem Teil von Clare zu bekehren. Und der Glaube an die Kräfte des Steins wurde von den Bekehrern als heidnische Götzenverehrung angesehen, die sie mit aller Macht ausrotten wollten. Die englischen Zeitungen schilderten es sogar als Beispiel, wie stark primitiver Aberglaube an den Rändern der Britischen Inseln noch immer gedieh …« Er wartete, bis ein Hustenanfall vorüber war. Dann kippte er den Rest seines Whiskeys hinunter und stellte das Glas auf die Theke. Ich fing den Blick des Barkeepers auf, und er schenkte ihm neu ein.
»Nun kam es dazu, dass zu dieser Zeit mehrere protestantische Missionarsschulen auf der Halbinsel gebaut wurden, aber ein gewisser Pfarrer Meehan aus einem der Dörfer an der Flussmündung konnte den örtlichen Großgrundbesitzer nicht dazu bringen, dass er ihm ein Stück Land zur Verfügung stellte, auf das er eine Kirche bauen konnte. Der Priester
war jedoch ein findiger Mann, und er kam auf die Idee einer tragbaren Holzkapelle – die kleine Arche wurde sie genannt -, die bei Ebbe auf den Strand hinausgefahren wurde, sodass er und der Altar vor der Witterung geschützt waren und seine Schäfchen die Messe in einer Art Niemandsland besuchen konnten. Es war ein Zustand, den alle rechtschaffen denkenden Menschen, Protestanten eingeschlossen, als ungerecht empfanden, aber er hielt mehrere Jahre lang an, während die Leute in der Gegend sich in dieser Zeit allmählich von den Praktiken in Zusammenhang mit dem Stein distanzierten. Sie dachten wahrscheinlich, und wohl zu Recht, dass der Stein die Bekehrer nur in ihren Bemühungen ermutigte, während er gleichzeitig der Forderung nach einem katholischen Gotteshaus nicht diente. Die Kirche wurde zuletzt doch gewährt. Der Stein wurde inzwischen unter Erde und Rasenstücken verborgen und war bald vergessen – aus den Augen, aus dem Sinn, wie es so schön heißt.«
»Aber wenn der Stein, wie Sie sagen, nach der großen Hungersnot versteckt wurde, wäre das in den 1850ern gewesen.«
»So ist es«, sagte er.
»Hm …« Seine Geschichte stimmte nicht mit der Chronologie der Kartografie in diesem Teil Irlands überein: Die Vermessung von Clare hatte mehr als zehn Jahre zuvor stattgefunden – und von dem Stein war keine Rede gewesen. Er war also bereits versteckt gewesen. Aber ich hatte nicht die Absicht, mit ihm zu streiten. »Danke für die Information, Mr. Costello.« Ich sah zu den Tauchern hinüber. »Ich gehe mal lieber zu meinen Freunden.«
»Ihr Vater ist vor ein paar Monaten verstorben, soviel ich weiß.«
Ich war überrascht. Ich dachte, er hätte keine Ahnung, wer ich war und würde sich auch nicht an meinen Vater erinnern.
Er musste Fotos in der Zeitung gesehen haben. P.V. Bowe war als Schauspieler durch eine Rolle in einer Fernsehserie in ganz Irland bekannt gewesen.
»Das stimmt. Er ist am ersten Juni gestorben.«
»Es tat mir leid, das zu hören. Und er war auch noch ein relativ junger Mann.«
»Siebenundsechzig.«
»Zwanzig Jahre jünger als ich.« Er nahm seinen grimmigen Gesichtsausdruck wieder an, das Licht in seinen Augen erlosch. Als ich mich an den Barhockern vorbeiquetschte, hörte ich ihn hinter mir murmeln: »Vielleicht wäre ich besser auch vor zwanzig Jahren abgetreten.«
Die andern saßen auf zwei Bänken mit hohen Lehnen an einem rechtwinkligen Tisch. Sally Hurst und Senan Costello auf der einen, Theo Mahon auf der anderen Bank. Gelegentlich wehte ein Hauch Torf von dem rauchigen Feuer im Kamin herüber.
Alle drei schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.
»Gibt es etwas Neues von der Polizei?«, fragte ich, als ich Platz nahm.
»Ja«, sagte Mahon. »Sie hatten recht, was die Identität der Frau angeht. Man hat ihren Pass und ein paar andere Dinge gefunden. Natürlich muss sie noch offiziell identifiziert
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