Die Opferstaette
es mir weitgehend gelungen. Danach gab ich das Tauchen ganz auf. Ich liebte das Meer immer noch und ich konnte darin schwimmen und schnorcheln. Aber der Gedanke, aus irgendeinem Grund in die Intrinsic Bay zu gehen, erfüllte mich mit Furcht, deshalb konnte ich Sally Hursts Empfindungen gegenüber der Bucht vollkommen verstehen.
Während ich dort in meinem Wagen saß und auf das von Wellen gepeitschte Riff hinaussah, fragte ich mich, ob Sarah Baxter von hier zu ihrem Spaziergang in den Tod aufgebrochen war. Oder war sie über die Straße zum Loop Head zum Lookout Cliff gelangt? Zu Fuß oder im Wagen? War sie in letzterem Fall selbst gefahren oder – bereits tot oder sterbend – hingefahren worden?
Rechts von mir, auf der andern Seite der Bucht von Kilkee, hing der Erntemond wie ein Lampion über der Walrückensilhouette von George’s Head. Er stand noch zu tief, um viel
Licht zu geben. Die wenigen anderen Fahrzeuge auf dem Parkplatz waren leer, soweit ich es im Dunkeln erkennen konnte.
Die Leute gingen zu allen Tageszeiten auf den Klippen spazieren, aber abends blieben sie normalerweise auf dem Weg. Was hatte Sarah dort hinaufgeführt? War sie entschlossen gewesen, sich in die Tiefe zu stürzen, oder hatte sie nur den Halt verloren, nachdem sie vom Pfad abgewichen war? War sie allein gewesen oder in Begleitung? Von Giles oder jemand anderem? Hatte es einen schrecklichen Unfall gegeben – oder war sie gestoßen worden?
Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, stieg ich aus und ging den Wanderpfad hinauf. Ich hatte beschlossen, ihren Weg nachzugehen, um vielleicht zu verstehen, was passiert sein könnte. Es erschien mir natürlich, das zu tun, und ich stellte mir vor, dass Angehörige von ihr dasselbe tun würden, wenn sie nach Kilkee kamen.
Der Pfad stieg zunächst sanft an. Ich warf einen Blick nach rechts. Das Riff war genau unterhalb von mir, eine dunkle Fläche, von Spitzen aus Gischt gesäumt. Ich hörte den klagenden Ruf eines Brachhuhns über das Geräusch der Wellen hinweg, und ich wusste, dass er von einem Felsvorsprung weit draußen auf dem Riff kam – einem Sammelpunkt für Nachtvögel, ob bei Ebbe oder Flut.
Thomas Westropp, der Altertumsforscher und Volkskundler, dürfte diesen Pfad ebenfalls gegangen sein. Er begann seine Arbeit Jahrzehnte nach den Ereignissen, die Derry Costello umrissen hatte, deshalb hatte er den Gottesstein selbst nicht wahrnehmen können. Aber hatte er die Geschichte seiner Existenz, wie Costello sie erzählte, aufgezeichnet? Vielleicht nicht. Ich vermutete, dass etwas daran nicht stimmte.
Irland war im Verlauf des 19. Jahrhunderts vermessen und kartografiert worden, und dazu hatte die Erfassung aller möglichen
alten Bauwerke und Denkmäler gehört. Ich wusste, dass dies für die Grafschaft Clare im Jahr 1839 geschehen war. Das Säulenkreuz wäre dabei sicher verzeichnet und die dazugehörige Klosteranlage entdeckt worden. Und doch wurden sie übersehen. Warum? Es konnte nur daran liegen, dass der Stein damals bereits verborgen war – fünfzehn Jahre vor der Zeit, die Derry Costello ins Spiel gebracht hatte.
Es war nicht ungewöhnlich für Irland, dass man Erzählungen hörte, denen zwar die richtigen Fakten zugrunde lagen, die sich aber nicht viel um deren Abfolge oder um zeitliche Lücken dazwischen scherten. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, in diesem Fall seien die Fakten der einen Geschichte absichtlich dazu benutzt worden, eine andere zu stärken. Sarah Baxter hatte in Zusammenhang mit dem Schiffbruch der Intrinsic einen »Stein« erwähnt, der drei Jahre vor der Vermessung Clares versunken sei. Hatte sie sich auf den Gottesstein bezogen? Aber wie könnte er etwas mit einem Schiffbruch zu tun gehabt haben? Es sei denn, man glaubte wirklich, dass er die Macht hatte, Stürme zu erzeugen.
Ich grübelte eine Weile vor mich hin, bis ich bemerkte, dass der Pfad steiler wurde. Eine Fledermaus flatterte genau über meinen Kopf. Ich hielt einen Moment inne und verfolgte ihren unregelmäßigen Flug vorbei am Mond und über die Felder auf der anderen Seite des Klippenpfads. Ich wollte gerade weitergehen und überlegte, die Taschenlampe einzuschalten, da der Weg nahe am Rand des Kliffs vorbeiführte. Doch ehe ich sie einschalten konnte, sah ich, wie sich ein Stück vor mir etwas bewegte. Eine Gestalt kam den Weg herunter, etwa zwanzig Meter vor mir. Die Silhouette kam mir irgendwie bekannt vor. Ich musste den Weg rasch verlassen.
Zum Glück war ich an einer Stelle, wo eine
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