Die Opferstaette
werden, aber es gibt praktisch keinen Zweifel mehr.«
»Anscheinend war sie seit rund zwölf Stunden tot«, sagte Costello. »Also muss sie irgendwann in der Nacht ins Wasser gegangen sein.«
»Gott sei Dank war ihr Gesicht relativ unverletzt«, sagte Sally.
»Allerdings hatte sie Narben an den Armen«, ergänzte Costello.
»Alte Narben«, sagte Mahon mit Nachdruck.
»Wir hätten ihre Leiche niemals gefunden, wenn sie nicht an dieser Eisenspitze hängen geblieben wäre«, sagte Sally.
»Sie meinen, weil sie ins Meer hinausgespült worden wäre?«, fragte ich.
»Nein. Nach meinen Beobachtungen in den zwei Tagen hier wird alles, was in der Bucht treibt, gegen den Fuß der Klippen gespült. Sie wäre in kürzester Zeit in Stücke gerissen worden.«
»Wir sind jetzt definitiv fertig hier«, sagte Mahon. »Niemand bringt es über sich, weiterzumachen. Gleich morgen früh reisen wir ab.«
»Ich habe Sie mit meinem Großonkel reden sehen«, sagte Costello. »Von dem habe ich viel über die Geschichte unserer Gegend erfahren.«
»Hat er Ihnen einmal von dem Gottesstein erzählt?«
Costello schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Was ist das?«
»Warum sollte ich es einem wie ihm erzählen?«, unterbrach uns Derry, ehe ich antworten konnte. Er war unbemerkt zu uns herübergekommen. »Er hat alle meine Geschichten gestohlen.«
Der Neffe lachte. »Sei froh, dass sich jemand für deine ollen Kamellen interessiert.«
Derry gab ihm einen Klaps hinters Ohr. »Ich mach mich dann mal auf den Weg«, sagte er. »Ich habe von der jungen Frau gehört. Fürchterliche Sache. Aber soviel ich weiß, war sie nicht lange im Wasser. Und das ist noch eine Gnade.«
»Wie wahr«, sagte Mahon.
»Draußen in Poulatemple war das, oder?«
Mahon schaute verdutzt. Ich hatte ebenfalls noch nie von dem Ort gehört.
»So hieß die Intrinsic Bay ursprünglich, vor dem Schiffsunglück«, erklärte der Alte.
»Ach so, verstehe«, sagte Mahon. »Ja, dort haben wir sie gefunden.«
»Und rechtzeitig dazu, nicht wie das arme Mädchen in der Flussmündung.« Derry schaute sich um, als wollte er sich vergewissern, ob Einheimische in der Nähe waren. »Eins der kleinen Geheimnisse von Loop Head, was?«, sagte er, dann sah er mich aus irgendeinem Grund durchdringend an und fügte hinzu: »Die toten Knochen, die verstreut danebenlagen.«
Etwas klingelte bei mir – es stammte aus einem Stück, wahrscheinlich Shakespeare, aber ich brachte es im Augenblick nicht unter.
»Eine schöne Zeit noch hier«, sagte er, und seine Miene hellte sich wieder auf.
»Ich bin nur noch morgen hier … und besuche Bishop’s Island.«
Derry stutzte. »Sie werden doch wohl nicht hinaufklettern, oder?«
Ich lachte. »Nein, das würde ich nicht riskieren. Ich werde von einem Hubschrauber abgesetzt.«
»Ich kannte einen Mann, der hinaufgeklettert ist, ob Sie es glauben oder nicht. Ende der 1930er. Sie waren zu zweit, junge Burschen damals. Der, den ich kannte, O’Reilly hieß er, kam an dem Morgen, an dem sie sich dazu verabredet hatten, frühzeitig an. Da von seinem Freund – ein Gibson, glaube ich – nichts zu sehen war, kletterte er zum Fuß der Klippen hinunter und schwamm zur Insel hinüber. Dann begann er, nach oben zu steigen. Schließlich traf auch Gibson ein, und auch er schwamm hinüber. Aber als er am Fuß der Insel ankam, schaute er nach oben und erkannte, was für eine furchterregende Aufgabe es war, die senkrechte Wand und die scharfen Felsen, die aus ihr ragten, bezwingen zu wollen. Und doch war sein Freund O’Reilly oben und sah zu ihm hinunter. ›Wie soll
ich da nur je hinaufkommen?‹, ruft Gibson nach oben. ›Folge den Blutspuren!‹, schreit O’Reilly zurück.«
»Großer Gott«, rief Sally aus.
Derry lächelte. »Es war nicht so schlimm, wie es klingt. Er hatte sich nur den großen Zeh an einem Stein aufgerissen.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Sie kennen sicher alle den Vater dieser Frau aus dem Fernsehen«, sagte er. »Aber ich erinnere mich daran, wie er Gedichte rezitiert hat und Texte von Shakespeare.« Er sah sich in der Kneipe um und lächelte wehmütig. »Hier, in diesem Raum.«
Der alte Mann schüttelte mir warm die Hand und ging. Die Zeile, die er zitiert hatte, war wahrscheinlich eine, die er mit meinem Vater in Verbindung brachte.
Die Gruppe verfiel wieder in Schweigen.
»Poulatemple? Habt ihr das gehört?‹«, sagte Mahon schließlich.
»Ursprünglich vermutlich ›Poll an teampaill‹«, sagte
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