Die Opferstaette
dröhnte. Den Anfeuerungsrufen nach saßen da drüben mehr Leute als hier bei uns.
Das Scotts war früher einmal fast so karg wie eine Mönchszelle gewesen: ein Heiligtum des zivilisierten Trinkens und Redens, ein Pub von beinahe puritanischem Gehabe – strikte Einhaltung der Sperrzeiten, keine Dinge wie Fernsehgeräte oder Musikberieselung, keine Duldung von flegelhaftem Benehmen oder Leuten, die ein Glas nicht festzuhalten wussten. Es war von den beiden Scott-Brüdern Bill und John mit der Disziplin eines Hochseeschiffs geführt worden, ihre Ordnungsliebe hatte sich in der kühlen, marineblauen Holztäfelung widergespiegelt und mit dem Läuten einer Handglocke zur Schließungszeit einen exzentrischen Ausdruck gefunden. Aber so war es gewesen, ehe ich zwanzig wurde. Die Brüder waren lange tot, die gestrichene Verkleidung war abgerissen worden, der Trinkbereich auf zwei Bars ausgedehnt, wo ein
Barkeeper mit rasiertem Schädel, Ohrringen und Armen voller Tätowierungen Bier zapfte. Und in der anderen Bar feuerten die Fans lautstark ihre Spieler an, begleitet vom Lärm des Stadions und der Stimme eines aufgeregten Kommentators. Es war, als hätten Meuterer das Schiff übernommen.
An der Theke, wo ich stand, saßen zwei junge Pärchen an einem Ende auf hohen Hockern beisammen, und am andern starrte ein einzelner Jugendlicher mit einem struppigen Bart in sein Bierglas. Als der Barkeeper wiederkam, bestellte ich ein stilles Wasser und wollte mich eben mit Glas und Flasche auf den Weg machen, als einer aus dem Quartett links aufstand, um zur Toilette zu gehen. Durch die entstandene Lücke bemerkte ich einen älteren Mann, der für sich allein saß. In meiner Vorstellung hatte ich nach dem »Aalmann« Ausschau gehalten, sonnengebräunt und stattlich, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und blitzenden Augen. Die Person dort hinten mit der wächsernen Haut und der säuerlichen Miene war tatsächlich Derry Costello, aber nur ein Schatten des Mannes, den ich gekannt hatte.
Und in der modernisierten Version des Scotts mit seiner Lautsprechermusik, dem Flachbildfernseher und dem jungen Publikum wirkte er fehl am Platz wie ein Fisch außerhalb des Wassers – oder besser gesagt, wie ein Fisch, der einst mit seinesgleichen ein Riff bewohnt hatte, in dem er sich nun als Letzter seiner Art wiederfand.
Ich ging ans Ende der Theke und quetschte mich hinter den Leuten vorbei, die dort saßen. Derry war der Kopf auf die Brust gesunken. Seine Hände lagen auf den Knien, ein Glas Whiskey in der einen, ein kleiner Krug mit Wasser in der anderen. Ein altes Schild mit einer Zigarettenreklame hing an der Wand hinter ihm. Früher war es einmal echte Werbung gewesen, jetzt war es eine kitschige Dekoration.
»Mr. Costello?«
Er blickte auf und legte den Kopf schief, unsicher, ob er tatsächlich seinen Namen gehört hatte.
»Derry?«
Er wandte langsam den Kopf und blinzelte mich irritiert an.
»Ich heiße Illaun Bowe. Ich bin früher mit meiner Familie in den Ferien immer hierhergekommen.«
Er nickte und lächelte schwach.
»Kann ich mich einen Moment mit Ihnen unterhalten?« Ich musste noch näher zu ihm rutschen, da der vierte aus der Gruppe zurückkam und wieder auf seinen Hocker kletterte.
Er goss Wasser in sein Glas und stellte den Krug auf die Theke. »Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte er. Es war schwer festzustellen, ob er es sarkastisch meinte. Seine Miene blieb mürrisch.
Ich erklärte, ich sei Archäologin und oben an der Ferienanlage gewesen, wo das Säulenkreuz stand, und es interessiere mich, wieso es nie in den offiziellen Karten der Grafschaft aufgetaucht sei. »Und ich glaube, dass Sie etwas darüber wissen.«
Er lächelte endlich ein richtiges Lächeln, und es ließ seine Augen glänzen. »Sie wollen also etwas über den Gottesstein wissen?« Seine Stimme war brüchig vor Alter.
»Der Gottesstein?«
»So wurde er genannt. Was glauben Sie, wie alt er ist?« Er trank einen Schluck aus seinem Glas.
»Genau lässt sich das nur schwer sagen. Frühchristlich, er könnte also bis zu fünfzehnhundert Jahre alt sein.«
»Sie halten ihn also auch für ein christliches Objekt.«
»Er ist das, was wir ein Übergangsobjekt nennen. Er könnte ursprünglich sogar heidnisch gewesen sein.«
»Sie sind ein kluges Kind.«
»Eigentlich nicht.«
»Angenommen, ich würde sagen, der Stein wurde unter Verschluss gehalten, weil er einen Hauch Heidentum an sich hatte?« Er trank noch einen Schluck Whiskey und wartete auf ein
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