Die Opferung
Parkplatz und die ersten Seitenstraßen von Ventnor erreichten.
Ventnor hatte nicht viel zu bieten: eine typische britische Küstenstadt mit Bushaltestelle und einem Kino, aus dem man eine Bingohalle gemacht hatte, mit Geschäften, die prallvoll gefüllt waren mit Wasserbällen und Strohhüten und Eimer-und-Schaufel-Sets. Aber es gab eine Pfarrkirche, St. Michael's, und eine Bibliothek - und mehr brauchte ich nicht.
In der engen sonnendurchfluteten und viel zu warmen Bibliothek, die nach Lavendelbohnerwachs roch, saß ich in einer Ecke und studierte das Fach GEISTER und OKKULTE PHÄNOMENE. Ich las über das schottische Schloss im Königreich Fife, in dem einmal im Jahr Blut über die Steintreppe strömte und die große Halle überflutete. Ich las über den
Mann ohne Gesicht, der den Trost seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter suchte und deshalb in einem kleinen Cottage in Great Ayton in Yorkshire erschien.
Ich suchte auch unter ZEIT und REIATTVITAT. Das meiste, was ich entdeckte, war so geheimnisvoll, dass ich es nicht mal im Ansatz verstand, auch wenn sich in The Arrow of Time einige interessante Passagen über alternative Realitäten fanden und darüber, warum es wissenschaftlich gesehen möglich ist, dass ein und dasselbe kosmische Szenario mehrere verschiedene, aber parallele Konsequenzen haben kann. Mit anderen Worten: Die Indianer hätten sich zur Wehr setzen und Amerika für sich behalten können. Und Hitler hätte ein weiset und gütiger Kanzler sein können, der Europa Frieden und Wirtschaftswachstum bescherte.
Ganz am Ende des Regals zum Thema ZEIT stieß ich auf eine von Eselsohren geprägte Ausgabe von National Geographie. Sie war vom Juni 1970, in Plastik eingeschlagen und trug einen gelben Aufkleber mit der Aufschrift ZEIT & SUMERISCHE ANTIKE, S. 85. Ich schlug die Zeitschrift auf und suchte den Artikel - >Zikkurat-Magie im antiken Sumer< von Professor Henry Coldstone II. Es ging um die Zikkurats von Babylon, die terrassenartig angelegten Türme, die rund um Ur am Euphrat erbaut worden waren.
Nicht das Thema das Artikels weckte meine Aufmerksamkeit, sondern ein grobkörniges Schwarzweißfoto mit der Unterzeile: >Sumerischer Tempel, der im August 1915 von den Türken niedergerissen wurde, weil seine Form den örtlichen Bey störte.<
Vom Tempel war wegen der schlechten Qualität des Fotos kaum etwas zu erkennen. Aber etwas an seiner Silhouette war äußerst vertraut, an der Art, wie seine Winkel dem Auge einen Streich spielten, und an den finsteren und unnatürlichen Perspektiven.
Ich hätte alles Geld - das ich nicht mehr besaß - darauf verwetten können, dass es sich um ein Foto des Dachs von Fortyfoot House handelte.
Ich überflog den Rest des Artikels in aller Eile. Die Bibliothek wurde jeden Moment geschlossen, während eine üppige Frau in einem grauen Twinset und mit Brille mich vom Tresen aus beobachtete, als wolle ich ein Buch stehlen.
Professor Coldstone stellte die These auf, dass im antiken Irak mehrere bedeutende Zikkurats errichtet worden waren, die - obwohl aus massivem Stein gebaut - in der Lage waren, ihre räumlichen Dimensionen zu ändern, und die die Babylonier benutzt hatten, um von einer Welt in die andere zu reisen.
Die Babylonier glaubten an die Existenz unendlich vieler antiker Zivilisationen, in die man sich unter Anwendung bestimmter astrogeometrischer Formeln begeben konnte, die auf den Mustern der wichtigsten Konstellationen basierten. Mathematiker der Neuzeit waren trotz des Einsatzes von Computern, die präzise Bewegungen quer durch das gesamte Universum berechnen konnten, bislang nicht in der Lage gewesen, diese Formen wieder zu erschaffen, weil sie so viele scheinbar absurde und mathematisch unmögliche Faktoren enthielten.
Professor Coldstone führte aus, dass »die Zivilisation der Sumerer auf Wissen basierte, das von einer anderen Welt jenseits der Zikkurats stammte«. Die Keilschrift der Sumerer wies keinerlei Übereinstimmungen mit irgendeiner anderen Schrift dieser Erde auf, auch wenn viktorianische Übersetzer versucht hatten, zu zeigen, dass es sich um nichts anderes als gekippte vereinfachte Piktogramme handelte. Die Götter der Sumerer und ihre Legenden zeigten keine religiösen oder anthropologischen Verbindungen zu irgendeiner anderen menschlichen Religion oder Glaubensrichtung. Bereits um 3500 vor Christus berichteten sie mit einer unheimlich anmutenden Selbstverständlichkeit von einem Ort, »an dem keine Tage gezählt werden« - ein Ort,
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