Die Opferung
den ihre Priester und Gelehrten vergleichsweise problemlos erreichen konnten, wenn auch nicht immer ohne Risiken. Einige der Priester verfielen durch das, was sie jenseits der Zikkurats zu sehen bekamen, dem Wahnsinn. Es gab sogar ein spezielles Symbol für den, »der gesehen hat, was jenseits wartet«. Nicht, was jenseits »liegt« oder »lebt«, sondern »wartet«. Worauf dieses Unbekannte wartete, dazu sagte Professor Coldstone nichts.
Über den von den Türken zerstörten Tempel fand ich nur wenig, lediglich eine Notiz des Bey, die besagte: »Er ist ein Zentrum des Unbehagens. In der Nacht sehen wir Lichter und hören Stimmen in Sprachen, die wir nicht verstehen können. Da sein Fortbestand die türkische Kontrolle über dieses Gebiet zu gefährden droht, habe ich angeordnet, den Tempel zu sprengen.«
Ich bat die Frau im grauen Anzug, mir den Artikel zu kopieren. »Sieht interessant aus«, sagte sie, während das grelle Licht des Kopierers die Abstellkammer beleuchtete, in der er gleich neben der Spüle, dem Wasserkessel und einem halben Dutzend Tassen aufgestellt worden war. »Zikkurats.«
»Also eigentlich sind die ziemlich langweilig«, sagte ich, während ich erfolglos versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Aufgewirbelter Papierstaub sank von der Nachmittagssonne beschienen zu Boden. In der Kinderecke der Bibliothek saß Danny im Schneidersitz auf dem Boden und las eine Kinderfassung von Dracula. »Warum trinken Vampire das Blut von anderen Leuten?«, fragte er mich, während wir die Stufen von der Bibliothek hinuntergingen.
»Weil sie keinen Fischgeruch mögen.«
»Nein, wirklich. Warum trinken sie Blut?«
»Das ist nur eine Geschichte, die dir Angst einjagen soll.«
»Was passiert denn, wenn ein Vampir von jemandem Blut trinkt, der AIDS hat?«
Ich blieb an der Ecke stehen, während ein Bus an uns vorbeifuhr, und sah ihn an. »Wie alt bist du?«
»Sieben.«
»Dann erzähl nicht solche Dinge. Du musst dir keine Gedanken über AIDS machen. Noch nicht, jedenfalls.«
»Aber wenn mich ein Vampir beißt, und der Vampir hat AIDS von jemandem, den er vorher gebissen hat?«
»Und was ist, wenn du mir so viele Fragen stellst, dass mein Kopf explodiert?«
Wir erreichten St. Michael's, eine bescheidene viktorianische Kirche, umgeben von Steinmauern und mit Zypressen im Kirchhof. Es war erkennbar, dass die Kirche einmal auf einem weitläufigeren Grundstück gestanden hatte. Doch ein großer Teil davon war aufgegeben worden, um die Hauptstraße zu verbreitern. So drängten sich zwanzig oder dreißig Grabsteine wie eine Zahnreihe an die Mauer, die dank der größten Bäume im Schatten lag.
In der Kirche, in der es überraschend kalt war, warf jeder unserer Schritte ein lautes Echo. Eine ältliche Frau war mit einer Blumendekoration beschäftigt, der Vikar stand auf einer Holzleiter und tauschte die Nummern der Kirchenlieder aus. Ich ging zu ihm hinüber und sagte: »Guten Morgen.«
Er schob seine Brille so weit herunter, dass er mich über den Rand ansehen konnte. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, schien er nicht älter als vielleicht fünfundvierzig oder fünfzig, aber er war auf dem besten Weg zur Glatze und besaß all die betulichen, übertriebenen Verhaltensweisen eines Mannes im Rentenalter. Er trug eine dicke Tweedjacke und eine abgewetzte grüne Kordhose.
»Bin sofort bei Ihnen«, sagte er, während er die letzte Karte einschob. Dann stieg er von der Leiter und sah mich an. »Kommen Sie wegen der Abflussrohre?«
»Nein, ich wollte Sie nur fragen, ob ich einen Blick auf die Aufzeichnungen der Pfarrei werfen dürfte.«
»Die Aufzeichnungen? Also, das wird ziemlich viel Arbeit werden. Abgesehen von diesem und vom letzten Jahr befinden sie sich alle im Vikariat. Kommt drauf an, welches Jahr Sie suchen.«
»Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass es vor 1875 sein muss.«
»Darf ich fragen, was genau Sie suchen, Mr. ...?«
»Williams, David Williams. Ja ... ich suche Daten über eine Hochzeit.«
»Ich verstehe. Vorfahren von Ihnen?«
»Nein, aber Leute, über die ich etwas weiß und über die ich etwas mehr wissen möchte.«
»Das waren doch Leute von hier, oder?«, fragte der Vikar. Dann wandte er sich der alten Frau zu, die noch immer mit den Blumenarrangements beschäftigt war. »Nicht zu viele Gladiolen vor der Kanzel, Mrs. Willis. Ich möchte noch meine Gemeinde sehen können«, rief er ihr so laut zu, dass seine Worte noch geraume Zeit nachhallten.
»Ja, sie waren von hier«,
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