Die Opferung
Und auch keiner meiner Vorgänger in dieser Pfarrei konnte etwas dazu beitragen. Es ist so, als lebe man gleich neben einem aktiven Vulkan. Es behagt einem vielleicht nicht, aber man muss sich damit abfinden.«
Ich holte die Kopie hervor, die die Frau in der Bibliothek für mich gezogen hatte. »Ich habe da eine Theorie, na ja, es ist weniger eine Theorie, es ist mehr so ein Gefühl, dass Fortyfoot House an zwei Orten gleichzeitig existiert. Genauer gesagt, in zwei Zeiten gleichzeitig. Hier, sehen Sie. Die alten Sumerer bauten Zikkurats, die ihnen angeblich den Zugang zu einer anderen Welt ermöglichten, die der gleiche Ort war, nur noch viel älter.«
Dennis Pickering faltete die Kopie auseinander. »Das ist äußerst interessant«, sagte er. »Ich habe davon gehört. Angeblich soll es nicht nur eine prähistorische, sondern sogar eine >vormenschliche< Zivilisation in Arabien gegeben haben, die Mnar, deren Hauptstadt Ib war. Einigen Historikern zufolge, wie beispielsweise Dr. Randolph Carter... ah, ja, sehen Sie doch, hier unten wird Carter sogar erwähnt... also, es heißt, dass die Sumerer in der Lage gewesen sein sollen, in der Zeit zurückzureisen, um nach Ib zu gelangen. Möglich gemacht wurde ihnen das angeblich durch bestimmte mathematische Formeln und ungewöhnliche architektonische Strukturen. Es ist faszinierend, wenn auch ein wenig überholt. Ich habe das meiste darüber auf dem College gelernt. Aber es ist meiner Meinung nach sehr suspekt.«
Er nahm seine Brille ab und sah mich an. »Ich kann allerdings nicht sehen, wo der Zusammenhang zum Fortyfoot House sein soll. Meiner Meinung nach ist Fortyfoot House einfach nur eines von diesen Gebäuden, die von der Verderbtheit derer heimgesucht werden, die dort einmal gelebt haben. Und von der Tragödie derjenigen, die dort gestorben sind. Ein klassischer Fall von Heimsuchung. Ich habe sogar selbst schon einen kleinen Artikel darüber geschrieben, Die
Heimsuchung von Fortyfoot House. Er wurde Anfang der siebziger Jahre in der Church Tines veröffentlicht.«
Er gab mir die Kopie zurück. »Reverend John Claringbull war der Vikar von St. Michael's, als Fortyfoot House gebaut wurde. Er kannte Mr. Billings sehr gut. Den alten Mr. Billings, nicht den jungen Mr. Billings. Der alte Mr. Billings war ein bekannter Menschenfreund. Als er beschloss, Fortyfoot House zu bauen, um Waisenkinder aus dem Londoner East End aufzunehmen, stellte ihm Reverend Claringbull jede erdenkliche paslorale Unterstützung zur Verfügung. Es ist alles in seinen Tagebüchern festgehalten, die noch immer hier im Vikariat sind, wo sie auch hingehören. Mit dem Bau von Fortyfoot House lief alles nach Plan, bis der alte Mr. Billings eines Tages aus London ein elternloses Mädchen mitbrachte, das sein Dienstmädchen und seine Köchin und Putzfrau werden sollte. Mr. Billings betrachtete die moralische Errettung dieses Mädchens als eine der größten Herausforderungen seines Lebens - eine Herausforderung, wie sie sich ihm noch nie gestellt hatte. Das Mädchen war vierzehn Jahre alt und hatte seit dem zehnten Lebensjahr als Prostituierte gearbeitet. Dieses Mädchen ... diese junge Frau war jenseits aller Vorstellungskraft verdorben. Es hieß, dass sie in den finstersten Straßenzügen der Londoner Docks aufgewachsen war, zwischen Ratten, Huren, Kriminellen und anderen Menschen, deren moralische Verwerflichkeit Sie sogar noch heute schockieren würde.«
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit seinen Schilderungen fort: »Laut Mr. Billings hatte Dr. Barnardo diese junge Frau aus der Obhut eines namenlosen und verdreckten Wesens gerettet, das im Zentrum aller Rattennester in den Londoner Kaianlagen lebte. Er konnte nicht sagen, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, nicht mal, ob es überhaupt menschlich war. In Dr. Barnardos Tagebüchern können Sie nachlesen, dass es in fast völliger Dunkelheit dasaß, umgeben von den Kadavern Tausender großer Kanalratten, von denen einige so alt waren, dass sie schon zu Staub zerfallen waren, während andere erst vor relativ kurzer Zeit ihr Leben gelassen hatten und teilweise mumifiziert waren. Diese junge Frau hatte zu Füßen dieses Wesens gesessen, sie war in schmutzigen Samt gekleidet und hatte - laut Dr. Barnardo - einen grotesken und gutturalen Gesang rezitiert, immer und immer wieder. Auch wenn er den Text nicht verstehen konnte, verspürte Dr. Barnardo unglaubliches Entsetzen, fast so, als sei es ein Gebet an Gevatter Tod
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