Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
kommen würde. Er trat um den Tisch herum. »Glaubst du an das Wirken Tjureds auf dieser Welt?«
»Ja«, antwortete der Junge unverzüglich.
»Als der Elf mir sein Schwert ins Gesicht schlug, da sorgte er dafür, dass ich nie mehr hübsch anzuschauen sein werde. Er zerstörte mein linkes Auge. Aber als ich noch mit meinem Schicksal haderte, machte mir Tjured ein unerwartetes Geschenk. Du wirst es jetzt zu sehen bekommen.«
Leon kniete vor ihm nieder und legte ihm die Rechte auf die Schulter. Mit der Linken griff er nach der weißen Augenklappe. »Dies ist mein allsehendes Auge. Das Geschenk Gottes an mich!«
Er zog die Augenklappe zurück.
Luc zuckte erschrocken zurück, doch Leon hielt mit eisernem Griff seine Schulter fest.
»Sieh mich an, Junge. Nun gibt es keine Flucht mehr!«
In der vernarbten Augenhöhle des Ritters bewegte sich ein schneeweißes Auge, durchzogen von roten Adern, die ein Abbild des Blutbaums bildeten. »Nur wer nichts zu verbergen hat, muss diesem Blick nicht ausweichen!«
Luc versuchte in das Auge zu sehen. Trotz der Hitze draußen war ihm plötzlich kalt. Selbst der fuchsköpfige Kobold war ihm nicht so unheimlich erschienen wie dieses unnatürliche Auge.
»Du machst dich ganz gut. Ich kenne Männer, die diesem Blick nicht so lange standgehalten haben wie du.«
Luc konnte nichts sagen. Er fühlte sich wie versteinert. Er musste all seine Kraft aufbieten, um seine Augen nicht von dem unnatürlichen Blutbaum zu lösen.
»Vielleicht hältst du mir ja so gut stand, weil die widernatürliche Kraft eines Wechselbalgs in dir steckt. Äußerlich bist du ein Junge, und du bist sogar gut geraten. Aber was steckt in deinem Innersten? Bist du bereit, mich in dein Herz sehen zu lassen, Luc aus Lanzac? Wenn du wirklich ein Wechselbalg bist, dann wird dich dieser Blick töten.«
Luc wollte antworten, aber er brachte gerade einmal ein Nicken zu Stande. Er zitterte.
Der Alte machte eine schnelle Handbewegung, und unter Lucs entsetztem Blick quoll das allsehende Auge aus dem Kopf.
»Mach den Mund auf, Junge.«
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Leon hob mit spitzen Fingern das Auge. »Mach den Mund auf. Wie sonst sollte ich in dein Innerstes sehen?«
»Aber …«
Fassungslos blickte der Junge auf das feucht schimmernde Auge.
»Das …«
»Wie sonst soll ich wohl in dich hineinblicken?«
Luc wurde übel.
»Du hast also etwas zu verbergen!«
»Nein. Ich …«
»Mach den Mund auf!«, herrschte ihn der Alte an. »Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Glaubst du, du kannst hierherkommen und mich zum Narren halten? Los, oder ich schlage deinen Schädel an der Tischkante auf, wie ich ein gekochtes Ei aufschlage. Beweise mir, dass du kein Wechselbalg bist!«
Luc schloss die Augen. Er wollte es zumindest nicht mit ansehen. Dann öffnete er den Mund.
»Na also.«
Der Alte zwänge ihm seine dicken Finger in den Mund und spreizte ihn noch weiter auf.
»Schluck es bloß nicht herunter! Es genügt, es im Mund zu halten.«
Das Auge war warm. Und es schmeckte leicht salzig. Glatt
wie roher Fisch lag es ihm auf der Zunge. Luc bemühte sich, an etwas anderes zu denken. An den Mittag am Brunnen mit Michelle. An die seltsame Geschichte von den roten und den schwarzen Ameisen. Er stellte sich Heere von Ameisen vor.
Leon packte ihn mit beiden Händen im Nacken. Dann beugte er sich vor. »Sieh mich an, Kerl!«
Der alte Ritter war ihm so nah, dass sich ihre Nasen fast berührten. Sein Atem roch säuerlich. In der leeren Augenhöhle hatte sich ein großer Bluttropfen gesammelt.
Luc kämpfte gegen den Reiz zu würgen an. Das glatte Auge bewegte sich in seinem Mund. Hatte er es mit der Zunge angestoßen, oder konnte Leon das Auge auch jetzt noch nach seinem Willen bewegen?
Der Brechreiz wurde übermächtig.
»Halt die Augen auf, Kerl!«, zischte der Ritter.
Luc dachte an Michelles Traum. Er stellte sich vor, wie die Ritterin auf einem Bären ritt. Einem großen, schwarzen Bären. Mit rotem Sattelzeug und goldenen Glöckchen am Geschirr. Ganz deutlich sah er das Bild vor sich. Er lächelte. Sie würde es schaffen. Bestimmt. Und er … Er würde sich seinen Traum auch erfüllen!
»Das reicht!«, sagte Leon unvermittelt. »Spuck es aus!«
Luc machte seinen Mund so weit auf, wie er nur konnte. Das Auge schlug gegen seine Zähne. Dann war es endlich draußen. Stoßweise atmete er ein und aus. Noch einmal drohte ihn die Übelkeit zu übermannen.
»Hol mir Schwester Michelle!«, knurrte ihn der Alte
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