Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
geschlossen, obwohl
du sie nicht vernäht hast. Und sie ist so gut verheilt, als sei schon mehr als eine Woche vergangen, seit du die Pestbeule geöffnet hast.«
Er war nicht mehr ganz so verlegen wie zuvor, als er ihre Wunde betrachtete. Wenn sie sich so unbefangen zeigte, war es vielleicht doch nicht verwerflich, eine nackte Frau zu betrachten. Vielleicht war sie als Ordensritterin auch so fern von jeder Sünde, dass sie sich nichts dabei dachte, sich zu zeigen.
Lucs Blick wanderte höher. Erneut stieg ihm das Blut in den Kopf. Er war nicht fern der Sünde!
»Lass uns gemeinsam beten, mein Freund«, sagte sie voller Begeisterung. Sie erhob sich aus der Nische und kniete vor ihm nieder.
Auch Luc begab sich auf die Knie. Er wunderte sich, wie großzügig sie alles, was geschehen war, zu seinen Gunsten ausgelegt hatte. Honoré hätte ihn für dieselben Taten gewiss als Ketzer verdammt. Aber warum sollte er an Michelles Worten zweifeln? Sie musste doch besser wissen, wie Gott sich den Menschen offenbarte. Vielleicht zweifelte er nur deshalb an sich, weil er noch ein klein wenig ein Heide war, der an die Macht der weißen Frau glaubte und zu feige war, sich dem einen Gott allein anzuvertrauen. Das sollte sich ändern! Er wollte so werden wie Michelle! Nie wieder würde er an Tjured zweifeln! Sie hatte recht! Es waren zwei Wunder geschehen.
DER UNGESCHICKTE BARBIER
Als Gishild erwachte, lag sie in einem kargen Zimmer mit weißgetünchten Wänden. Der einzige Schmuck in dieser Kammer war ein Bild, das sie mit Schrecken erfüllte: ein kahler roter Baum mit ausladender Krone, der auf die Wand gegenüber dem Bett gemalt war.
Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war. Sie sollte im Wald sein …
Gishild wollte aufstehen, um an das offene Fenster zu treten, doch ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust. Sie sank zurück aufs Kissen. Angst ergriff ihr Herz, das immer schneller schlug. Sie atmete auch heftiger. Und mit dem hechelnden Atem verstärkte sich der Schmerz.
Gishild dachte an Silwyna. Die Elfe hatte sie gelehrt, auf die Sprache ihres Körpers zu lauschen. Das Mädchen schloss die Augen. Der Schmerz entsprang in der Mitte ihrer Brust. Sie konnte es fühlen. Der Knochen, in dem sich ihre Rippen verbanden, war verletzt. Sie musste flacher atmen! Je mehr sich ihr Brustkorb hob und senkte, desto schlimmer wurde der Schmerz. Sie konnte das beherrschen …
Gishild biss die Zähne zusammen. Es war leichter, vernünftig zu denken, als vernünftig zu handeln. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf den Blutbaum an der Wand; er machte ihr Angst.
Gishild ahnte, wo sie war. Sie konnte sich zwar nicht erklären, wie sie hierhergekommen war, aber sie musste sich in einer der roten Ziegelburgen der Neuen Ritterschaft befinden.
Vorsichtig tastete sie über ihre Brust. Durch die Bettdecke
hindurch konnte sie einen Verband fühlen. Sie war verwundet worden! Aber wo? Hatte es eine Schlacht gegeben? Was war mit ihrem Vater? Und all den anderen … Warum erinnerte sie sich nicht? Was war geschehen?
Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Sie schluchzte … Gishild legte sich beide Hände auf die Brust. Es tat so weh! Sie durfte nicht tief einatmen … Nicht weinen … Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie versuchte verzweifelt, nicht zu schluchzen.
Silwyna hatte ihr einmal gesagt, dass es helfen konnte, an etwas anderes zu denken. Wenn man es mit aller Kraft tat, dann verschwand der Schmerz hinter einem Schleier. Man musste ihn vergessen.
Gishild wünschte, sie wäre eine Elfe! Wie sollte das gehen, den Schmerz zu vergessen, wenn jeder Atemzug eine Qual war.
Durch das Fenster hörte sie das Rattern eisenbeschlagener Räder. Karren fuhren über Kopfsteinpflaster. Schrille Möwenschreie stiegen zum Himmel auf. Eine monotone, durchdringende Stimme rief in regelmäßigen Abständen: Hief! Segel wurden eingeholt. Sie musste in einem Hafen sein. Dabei war sie doch eben noch tief im Wald gewesen. Sie erinnerte sich an das Dorf auf der Lichtung. Die stählerne Mauer der Ritter. Ihr Vater hatte mit den Rittern verhandelt. Aber was war dann geschehen? Ihre Erinnerung war ausgelöscht.
Sie sah sich in dem Zimmer um. Vielleicht fand sie etwas, das ihr helfen konnte. Nein … Der Raum war karg. Ein Stuhl und eine schlichte Kleidertruhe, das war alles. Nicht einmal eine Kerze gab es.
Zwei Türen mit schwarz gestrichenen Eisenbeschlägen lagen einander gegenüber. Das Fenster war nicht
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