Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
stützte seine Hände neben ihrem Kopf am Tor ab und sah in diese braunen Augen. Er wunderte sich über das Mysterium der Fremdheit, nichts kannte er von der Person hinter dieser ernst blickenden Stirn, nichts, nur dass sie sich mit Epochenzäsuren und dem Verlorengehen Gottes auseinandersetze. Der kleine Gott hat sich verlaufen, er möge sich bitte bei seiner Mama im Kinderparadies melden. Er hatte zu viel getrunken. Er wollte ihren Mund küssen. Aber sie ging in die Knie und tauchte unter seinen Armen durch. Dabei lachte sie und lief ein paar Schritte rückwärts, während sie Tom mit ihrem Blick ein Stückchen hinter sich herzog. Dann drehte sie sich um und lief davon. Tom aber war glücklich in diesem Moment. Wenn es schon keinen Sinn gibt im Leben, dachte er auf einmal, an die kalte Steinmauer eines ewigen Palazzos gelehnt, Blick in den kalten ewigen Himmel, dann wenigstens dies: Glück.
Ja, er war glücklich gewesen, dachte er am Morgen. Wenn auch besoffen, aber glücklich, und wer wusste, ob sein mitgenommeneslimbisches System in der Lage gewesen wäre, dieses Gefühl auch ohne Alkohol zu produzieren. Wer wusste, ob nüchternes Glück mehr zählte als betrunkenes, ob ein Unterschied bestand? Wer konnte sagen, ob es wahres und falsches Glück gab?
Er dachte an eine Zigarette, endlich, und als er sich aufrichtete, um sich zum Zigarettenpäckchen auf seinem Nachttisch hinüberzubeugen, während der Schmerz seinen Kopf durchfuhr, fiel ihm die Verabredung für 13 Uhr ein. »Ich zeige euch Genua«, hatte die flammenhaarige Maren gesagt, und wie sie es betont hatte, ernst, sehr ernst und bestimmt, hatte es nicht in erster Linie nach Spaß geklungen. Wie es wäre, sich in sie zu verlieben, übungshalber? Er blinzelte, zündete sich eine Zigarette an, dachte an das große Rätsel des Glücks. Warum hatte er Breitenbach nie darüber befragt? Der unglückliche Breitenbach hätte ihm sicher alles über das Glück erklären können. Breitenbach, der einmal gelebt hat und dann einmal gestorben ist. Tom hatte es vor einigen Jahren aus der Zeitung erfahren, eine einfache Todesanzeige, klein, in schwarzer Umrandung, ein Nietzsche-Zitat links oben. Das ist es, was bleibt. Ein schwarzer Kasten und ein Nietzsche-Zitat, dachte er in Genua.
Er rauchte mit geschlossenen Augen, lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben, entferntes Wasserrauschen, ein Staubsauger, dumpf und leise. Vor dem geöffneten Fenster der Straßenverkehr. Und ein Geruch, den er kannte, süßlicher warmer Stadtgeruch. Er war in Genua und gleichzeitig in Berlin, das ihn an jenem Abend, wie ihm jetzt einfiel, an jenem entfernten Abend ihres ersten gemeinsamen Konzertes, da sich alles entschied, an Italien erinnert hatte.
KEINE AHNUNG
Es war ein Sommerabend gewesen in Berlin. Die Stadt hatte nach Müll, Italien, Autoabgasen und Parfum gerochen, das von Mädchenhaaren in langen Bögen durch die Luft gezogen worden war. Er erinnerte sich nicht, wie sie geheißen hatten an jenem ersten Abend, weil sie nie einen festen Bandnamen hatten, zuerst weil ihnen nichts Passendes eingefallen war, später weil sie der Ansicht gewesen waren, Namen seien Schall und Rauch, und sie es vorgezogen hatten, sich lieber jedes Mal neu zu erfinden, je nach Weltlage, Wetter, persönlicher Stimmung. Er meinte aber sich zu erinnern, dass sie sich an jenem Abend »Die Hinterhofjungs« nannten. Der Club nämlich, in dem sie auftreten sollten, lag in einem Hinterhof der Schönhauser Allee in Mitte, trug den Namen »Wohnung« und war auch eine Wohnung. Sie spielten anlässlich einer Ausstellungseröffnung.
Schon am späten Nachmittag hatten sie ihre Instrumente aufgebaut und verkabelt, und nun warteten sie am Tresen. Der Raum füllte sich. Es wurde eng. Zigarettenrauch quoll wolkig über den Köpfen, man unterhielt sich, gestikulierend, unterstrich mit der Glut der Zigaretten die Ausführungen über postmoderne ästhetische Theorie, die man gegen die Musik in den Raum schrie. Die Kunst hing so herum, war aufgrund der Lichtverhältnisse kaum zu erkennen und offensichtlich nur dafür da, der Veranstaltung den Hintergrund zu verleihen. Holler erinnerte sich an die großformatigen Gemälde ihres Nachbars Helge Sturm, der inzwischen »Karriere«, wie man sagt, in einer renommierten Werbeagentur gemacht hatte und der damals in flächig-pastosen Farben Meldungen aus norddeutschen Lokalzeitungen illustrierte, mit Bildunterschriften in Schreibschriftwie »Oma und Opa Zäuner im neueröffneten
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