Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
der direkten Sichtweite aussah und ob sich in unmittelbarer Nähe andere Avatare aufhielten. Sie wären auf der Übersicht als kleine Punkte erschienen. Doch es war niemand da. Das Land »High Alps«, ein winziger Bruchteil der gesamten »Twinworld«, war bis auf Tamara leer.
Mara überprüfte, wer von ihren Freunden online war. Niemand. Auch Deborah nicht, die in der virtuellen Welt ihren normalen Namen trug. Ihr Name auf der Liste war nicht unterlegt. Ein Doppelklick, und die Messagebox öffnete sich. Mara überlegte einen Augenblick und ließ die Finger über der Tastatur schweben.
»Sie ist nicht online«, sagte sie. »Aber ich kann ihr eine Nachricht schreiben, die sie dann als Mail erhält.«
»Okay, dann schreib. Bleib am besten kurz und bündig.«
Mara tippte.
Hallo, Deborah, ich habe mir noch mal alles überlegt. Bitte melde Dich über TW . Tamara/Mara.
Sie klickte auf »Senden«.
»Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird«, sagte Jakob.
»Ich glaube nicht, dass sie der Typ ist, der lange ohne Internet bleibt. Es sei denn, sie hat schon herausgefunden, wie die Violine zu gebrauchen ist. Dann wird sie die Nachricht vielleicht ignorieren.«
»Sie wird immer noch ein Geschäft mit dir machen wollen. Und es hat keinen Sinn, die ganze Zeit auf den Bildschirm zu starren und darauf zu warten, ob sie sich meldet. Wir sollten etwas anderes machen.«
Mara lächelte ihn an. »So? Was denn?«
»Du könntest mich zum Beispiel runter ins Geschäft begleiten. Ich habe da ein bisschen zu arbeiten.«
»Du meinst, ich soll dir helfen?«
»Vielleicht. Oder zusehen.«
»Wobei?«
»Wie ich Buchtitel in den Computer eingebe.«
»Klingt aufregend.«
»Das kann spannender sein, als viele glauben.«
Sie wiegte den Kopf. »Möglich. Ich lasse mich gerne überraschen.«
»Macht es dir keinen Spaß, dich mit alten Büchern zu beschäftigen?«
»Klar.«
Jakob war schon aufgestanden.
Mara griff zur Maus und wollte das Programm von Twinworld schließen. In diesem Moment erschien eine gelbe Schrift in der rechten unteren Ecke des Fensters. Sie bestand aus drei Wörtern: Deborah ist online .
»Moment«, sagte Mara. »Das ist wirklich schnell gegangen.« Sie scheint auf mich gewartet zu haben, dachte sie. Wusste sie, dass ich mich melden würde? Und was soll ich ihr schreiben?
Bevor sie sich entschließen konnte, erneut die Freundesliste und eine neue Messagebox zu öffnen, erschien eine Nachricht von Deborah.
Freue mich. Es gab eine Menge Missverständnisse. Was hast Du Dir überlegt?
Jedes Mal, wenn Padre Antonio eine Messe las, verblasste die Erinnerung an die Ereignisse in der Höhle ein wenig mehr. Die wohltuende Kraft des Rituals tat ihren Dienst. Die liturgischen Texte, die Gebete, die Musik.
Gelegentlich wurde er noch davon aufgeschreckt, wenn ihm das Verschwinden von Tino Fasone zu Ohren kam. Ein paar Tage nach dem Erdbeben hatte es sogar eine Notiz in der Zeitung gegeben. Es wurde nichts darüber berichtet, dass der Junge zuletzt in seiner Kirche gewesen war. Der Autor des Berichts zitierte einen Polizeibeamten. Und der glaubte, dass Tinos Verschwinden mit dem Beben zusammenhing. Dass er unter irgendeinem eingestürzten Gebäude begraben worden war.
Jetzt saß der Padre in seinem Arbeitszimmer und berauschte sich wie so oft an den Originaltexten des Neuen Testaments. Er murmelte die Verszeilen mit, während sein rechter Zeigefinger die Textzeilen entlangwanderte. Doch das war nur eine Geste, die für Padre Antonio dazugehörte. Er kannte die Texte natürlich längst auswendig.
Gerade war er an der Stelle, an der Jesus im Johannesevangelium Lazarus vom Tod zurück ins Leben brachte, indem er sich vor das Grab stellte und rief: »Lazarus, komm heraus!« Woraufhin der Tote, noch in Totentücher gewickelt, seine Begräbnisstätte verließ.
Als der Padre am Ende des Kapitels angelangt war, blätterten seine Finger flink die Dünndruckseiten durch, und er sprang im Evangelium weiter nach hinten. Zu Jesu Kreuzigung.
Als der Heiland gestorben war, brachten ihn Maria und die anderen Frauen in sein Grab, aus dem er am dritten Tage verschwunden war. Wieder ein Beweis dafür, dass Jesus nicht nur Herrscher des Himmels, sondern auch der Herr des Totenreichs war. Padre Antonio kamen die Worte des christlichen Glaubensbekenntnisses in den Sinn:
… crucifixus, mortuus, et sepultus, descendit ad inferos: tertia die resurrexit a mortuis; ascendit ad caelos …
… gekreuzigt, gestorben und begraben,
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