Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Sie sich von Gritti trennen will. Wenn die Forschungen, die sie betreibt, wirkliche Ergebnisse bringen.«
Mara versetzte das, was Wessely gesagt hatte, einen Stich. »Was soll das?«, rief sie. »Sicher hat sie versucht, mir einen Gefallen zu tun. Aber muss es denn deswegen die Unwahrheit sein? Es kann doch trotzdem stimmen.«
Sie spürte einen heftigen Druck hinter den Augen, und ihr wurde klar, dass sie den Tränen nahe war. Die einzige Information über ihre Mutter sollte eine Lüge sein? Unmöglich! Sie hatte sich so lange daran geklammert, hatte sich ausgemalt, wie ihre Mutter – Tamara – ausgesehen haben mochte. Sie hatte in ihrem Bewusstsein nach Erinnerungen gesucht, sie hatte von ihr geträumt – nachts und in heftigen Tagträumen –, und sie hatte ihre Geige nach ihr benannt.
»Deborah ist eine Lügnerin«, sagte Wessely. »Eine Betrügerin, und sie ist sogar eine Mörderin. Warum hätte sie sich mit der Frage nach Ihrer Verwandtschaft so viel Mühe geben sollen?«
Mara sprang auf. Wessely war einen Schritt zurückgetreten, stand aber immer noch in seiner festen, unerschütterlichen Haltung da. Auf seinem Gesicht zeigte sich keine Regung. Mara blickte zu Jakob, der sich auf die Unterlippe biss.
»Warum machen Sie mir das kaputt?«, rief Mara. »Sie wissen das doch gar nicht. Sie wissen doch gar nichts.«
»Georg«, rief Jakob. »Das bringt uns nicht weiter.«
»Ich wollte nur, dass sie die Lage richtig einschätzt«, sagte der Geistliche. »Nicht mehr und nicht weniger. Und vielleicht ist unser Plan vor diesem Hintergrund doch nicht so gut, wie wir denken.«
»Wir bleiben jetzt dabei«, rief Jakob. »Es ändert sich nichts. Deborah braucht Mara. Nach wie vor. Wir kennen Deborah und sind vor ihr auf der Hut. Fertig. Mara, los, logg dich ein.«
Sie schüttelte die Verärgerung ab. Jakob hatte recht. Sie setzte sich wieder hin. In ihr vibrierte es.
Hinter sich hörte sie Wessely brummen: »Mir ist das alles zu hoch. Ich komme später zurück. Sagt mir, wenn ihr weitergekommen seid.«
Damit verließ er den Raum. Seine Schritte verloren sich auf dem Gang. Die Wohnungstür fiel ins Schloss.
Mara startete den Log-in-Vorgang. Während er lief und auf dem Monitor wieder ein länglicher Querbalken wuchs, versuchte sie, sich zu beruhigen. Jakob hatte sich neben sie gesetzt. Seine Nähe half ihr, wie sie verblüfft feststellte. »Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist«, sagte er.
»Wahrscheinlich stimmt ja, was er sagt.«
»Das finde ich nicht. Es ist doch klar, dass dir sehr viel daran liegt, etwas über deine Familie zu erfahren. Und solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, braucht man Deborahs Informationen nicht anzuzweifeln. Er tut dir damit nur weh.«
Mara blickte auf, von dem mitfühlenden Gedanken überrascht. In ihrem Inneren löste sich etwas. Die Erinnerung an den Traum heute Nacht streifte sie wieder. Sie zog vorbei wie ein flüchtiger Duft.
»Bist du drin?«, fragte Jakob. »Ich meine, hast du dich eingeloggt?«
Sie riss sich von seinem Anblick los.
Auf dem Monitor befand sich Maras Avatar in einer Fantasielandschaft. Im Vordergrund leuchtete eine giftgrüne Wiese. Direkt daneben schlugen im leblosen Rhythmus der Programmierung glitzernde Wellen ans Ufer – gekrönt von Schaumkronen. Weiter hinten öffnete sich ein weißlich blauer Himmel.
Tamara, wie Maras Avatar hieß, sah ihrer realen Besitzerin weitläufig ähnlich. Er war schlank, hatte ein rundes Gesicht und schwarze Haare. Die Kleidung war ebenfalls dunkel. Am Handgelenk glitzerte ein silberner Armreif, der aber im Verhältnis etwas zu groß war und wie ein Fremdkörper wirkte. Über dem Kopf schwebte in Systemschrift der Name: Tamara.
Mara bewegte die Pfeiltasten und ließ den Avatar loslaufen. Die Haare bewegten sich. Er trippelte ein Stück über die Wiese. Dann tauchte ein einzelner Baum auf, um den Mara die Figur geschickt herumführte, dann ein kleines braunes Gebäude. Tamara lief direkt darauf zu. Die Pixel des Hauses verdichteten sich beim Näherkommen und nahmen die Textur von Holz an. Das Haus sollte eine Blockhütte sein.
Am oberen Rand des Fensters stand der Name des Gebiets, in dem sich der Avatar befand. Der Besitzer, offensichtlich ein Freund von Gebirgen, nannte es »High Alps.« Als Tamara die Holzhütte erreicht hatte, ließ Mara die Figur auf der Bank davor Platz nehmen und öffnete über einen Menüpunkt des Programms die Karte der Umgebung. Hier konnte man sehen, wie das Gelände auch außerhalb
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