Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
ohne den Blick vom Geschehen auf der Brücke abzuwenden.
Quint rief Wessely etwas zu. Der Geistliche schüttelte den Kopf. Ein paar lange Sekunden blieben beide wie erstarrt, dann hob Quint beide Hände. Langsam und sehr genau zielte er auf Wessely.
Der Geistliche konnte nicht entkommen. Der Weg war schmal, und der Amerikaner hatte freie Sicht. Jeden Moment würde der tödliche Schuss fallen. Quint würde dann die Geige nehmen und versuchen, mit ihr zu fliehen. Und sich dabei wahrscheinlich den Weg freischießen, wenn man ihn daran hindern wollte.
Doch nun kam Leben in Wessely. Auch er hob einen Arm. Es war der, der die Geige hielt.
Was hatte er vor?
Sicher wollte er Quint den Kasten geben, um sein Leben zu retten. Das war auch das Vernünftigste.
Aber dann hielt er den Koffer über das Geländer. Über den Abgrund.
Ein heftiger Schmerz durchzuckte Mara wie ein Stromschlag.
Er will sie hinunterwerfen, dachte sie. Er will sie zerstören, bevor sie jemand anderes in die Hände bekommt.
»Wessely«, rief sie. »Nicht …«
Der Geistliche schien sie zu hören, sah sogar einen Moment zu ihr hinunter. Er brachte den Geigenkasten wieder in den Schutz der Brüstung und stolperte weiter.
Doch da stand immer noch der Amerikaner. Er ging langsam auf den Geistlichen zu, der sich umgedreht hatte und weiterging. Doch Quint war schneller als er, der Abstand verringerte sich mit jedem Schritt. Nun waren es nur noch höchstens zehn Meter, die zwischen ihnen lagen. Wessely hatte sich ein Stück weit in Richtung Stadt bewegt. Unter ihm lag nun das Ufer der Insel.
Wieder rief Quint etwas. Er nahm eine Hand von der Pistole und winkte Wessely zu sich. Er wollte, dass der Geistliche zu ihm kam und ihm das Instrument gab.
Tu es, dachte Mara. Es ist immer noch besser, Quint und Deborah haben die Geige, als dass sie kaputtgeht.
Doch dann hob Wessely den Kasten wieder nach oben. Er wandte sich von Quint ab, um mit dem gesunden Arm Schwung zu holen.
»Nein«, rief Mara, als sie begriff, was geschah. In der nächsten Sekunde löste sich der Koffer von Wesselys Hand und begann in einer großen Bahn zu fliegen. Der Schwung war so stark, dass er kurz in die Höhe aufstieg. Dabei bewegte er sich von der Donauinsel weg, als wolle er mit aller Verzweiflung die Stadt erreichen, die jenseits des Wassers lag. Dann, während er noch immer in Richtung des anderen Ufers segelte, bog sich seine Bahn nach unten. Ein Saum aus Büschen und kleinen Bäumen verdeckte die Sicht, aber Mara hörte deutlich das helle Platschen, mit dem ihre Geige auf das Wasser traf.
Für eine Sekunde kam es Mara vor, als sei sie selbst in dem Koffer gefangen, in einer Kiste, so eng wie ein Sarg, während eiskaltes Wasser eindrang und sie langsam tötete. Sie rannte auf das Ufer zu, der Weg kam ihr schrecklich weit vor. Sie arbeitete sich durch das Unterholz, das an ihrer Jacke riss, sie knickte mit dem Fuß um, und als sie endlich die dunkle Wasserfläche vor sich sah, war von dem Kasten nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte ihn die Strömung ein Stück flussabwärts getragen. Mara suchte die Donau ab. Ihr Blick blieb hier und da an einer kleinen Welle hängen, die einen Schatten zu werfen schien.
Oben auf der Brücke peitschte ein zweiter Schuss. Ein Aufschrei folgte.
Sie rannte zurück und sah Quint, wie er die Masse der Schaulustigen teilte, immer noch die Pistole in der Hand. So schnell sie konnte, sprintete sie los, die Treppe hinauf zu Wessely. Er lag auf dem Fußgängerweg. Unter ihm breitete sich etwas Dunkles aus.
Als er Mara sah, gelang es ihm, sich aufzurichten und die Hand zu heben. Sie lief zu ihm.
»Warum haben Sie das getan?«, rief sie.
»Still«, antwortete er. »Still, hör … mir … zu …«
Sein weißer Kragenspiegel trug eine rote Blutspur. Aus der Wunde am Arm pulste das Blut, und ein zweiter Schuss musste in die Brust eingedrungen sein. Mara erhob sich und blickte in Richtung der U-Bahn-Station, dann über die Brüstung. Sicher hatte jemand den Notarzt angerufen. Wo war eigentlich Jakob?
»Du … sollst … zuhören«, kam es gurgelnd von Wessely. »Nicht … viel … Zeit …«
Sie ging in die Hocke. »Ich höre zu«, sagte sie.
Der Geistliche presste die Lippen aufeinander. Er schien Kraft zu sammeln.
»Niemand … darf wissen, wo der Ort der Orphiker ist.«
»Aber warum nicht? Ich dachte, Sie versuchen seit Jahren, genau das herauszufinden.«
»Die Schwarze Violine, die den Weg dorthin weist …«
»Sie haben sie
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