Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
»… und lieben. Und sie hat immer daran geglaubt, dass ihr Kind einmal das orphische Erbe antreten würde. Deswegen hat sie dir das Zeichen gegeben, als du noch ein Baby warst.«
»Welches Zeichen?«, fragte Mara, obwohl sie es ahnte. »Wieso gegeben ?«
»Das orphische Zeichen auf deiner Haut ist eine Tätowierung.«
Mara spürte, wie Kälte über ihre Wirbelsäule wanderte. Ein hoher Ton piepste in ihrem Ohr, und ihr Blickfeld wurde schmal. Sie kannte die Anzeichen einer plötzlichen Kreislaufschwäche. Früher hatte sie so etwas oft heimgesucht. Es war Jahre her, aber nun überfiel es sie erneut. Sie sank auf die Knie. Wessely presste die Lippen aufeinander, als habe ihn ein sehr schwerer Schmerz überfallen. Es kam wie eine Welle über ihn. Hinter Mara waren Schritte zu hören, die sich schnell näherten.
Der Geistliche riss die Augen auf.
»Du bist … meine … Tochter.«
Seine Augäpfel schienen aus den Höhlen zu treten, und sein Blick wanderte ins Irgendwo – hinter oder über Mara, als habe er dort etwas Grauenvolles bemerkt. Sie drehte sich um, sah aber nur zwei Sanitäter in leuchtend orangefarbenen Anzügen. Sie wandte sich wieder Wessely zu. Sein erschreckter Blick, ein Ausdruck des absoluten Grauens, war unabänderlich in sein Gesicht gegraben.
»Gehen Sie bitte zur Seite«, rief einer der Sanitäter, wohl der Notarzt, und Mara erhob sich. Sie drängte sich an Wessely vorbei, der immer noch angstvoll in die Höhe starrte.
»Hallo? Hören Sie mich?«, rief einer der Männer.
»Warum kommen Sie erst jetzt?«, rief Mara.
Der andere Sanitäter sprach sie an. »Da unten war ein Verrückter mit einer Waffe. An dem kamen wir nicht vorbei.«
Der Notarzt erhob sich und schüttelte den Kopf.
Mara überkam erneut ein Gefühl der Schwäche.
»Ist er …?«
»Ja, er ist tot. Wir können nichts mehr tun.«
38
Die Welt verschwand wie hinter einer Glasschicht. Mara hatte das Gefühl, als habe sie sich dahinter zurückgezogen und beobachte alles aus einer großen Distanz.
Die Leute, die sich etwas zuflüsterten, als Mara die Treppe hinunterstieg. Jakob, der etwas zu ihr sagte.
Polizisten mischten sich zwischen die Spaziergänger, Jogger, Fahrradfahrer und Skater und trieben die Neugierigen weg. Minutenlang, so kam es ihr zumindest vor, blieb Maras Blick an einem kleinen weißen Hund haften, der seinen Platz nicht räumen wollte und einen der Beamten anbellte. Mara wartete darauf, dass man auch sie wegschicken würde – sie und Jakob, der neben ihr stand. Aber dann kam einer der Polizisten herüber und sagte etwas.
Mara versuchte, in ihrem Kopf den Nachhall des Gesagten einzufangen, und erst als der Beamte weitersprach, gelang es ihr, die seltsame Dehnung der Ereignisse in ihrer Wahrnehmung und den Ablauf dessen, was außerhalb ihres Körpers geschah, wieder in Einklang zu bringen.
Der Polizist runzelte die Stirn. Er hatte einen Block aus der Brusttasche seiner Uniform geholt, dazu einen Kugelschreiber. Mara fiel auf, dass sein dichtes schwarzes Haar unter der Uniformmütze hervorquoll, als sei es zu störrisch, um sich von einem Hut bändigen zu lassen.
»Sie kannten das Opfer?«
Er war mein Vater, ging es Mara durch den Kopf, und einen Moment fragte sie sich, ob sie das ausgesprochen oder nur gedacht hatte. Der Beamte sah sie immer noch fragend an, und so wusste sie: Sie hatte geschwiegen.
Jakob antwortete. »Er war ein Freund … Ich besitze in der Josefstadt ein Antiquariat … Er kam oft zu mir … Er war Historiker …« Er gab Wesselys Namen an, sagte, dass er seines Wissens nach für den Vatikan tätig war. Und in diesem ganzen Informationsfluss wurde Mara klar, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Dass sie die Welt wie durch Watte wahrnahm, war die eine Sache. Aber Jakob spielte dem Beamten gegenüber ein Spiel. Er verschwieg, dass er wusste, wer hinter Wesselys Tod steckte. Er nannte den Namen Deborah Fleur nicht.
Schließlich fragte der Polizist: »Was haben Sie hier auf der Donauinsel gemacht?«
Jakob zuckte bühnenreif mit der Schulter. »Den Abend genossen.«
»Und Sie?«, sprach er Mara an. »Kannten Sie das Opfer?«
»Nein«, antwortete Jakob, ehe sie etwas sagen konnte. »Wir kennen uns im Grunde nicht. Sie kam vor ein paar Tagen zufällig ins Antiquariat …«
»Sie sind Deutsche? Mara Thorn … Der Name sagt mir etwas. Aber ich komme nicht drauf … Sie müssen mit auf die Wache wegen des Protokolls. Wir erstellen ein Fahndungsbild des Täters. Sie können
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