Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
unterwegs, und als er zum x-ten Mal um die Ecke bog, sah er sich plötzlich einer großen Gruppe fein gekleideter Leute gegenüber, die vor einem Gebäude standen und auf Einlass warteten.
Es waren so viele, dass sie die enge Straße in Anspruch nahmen. Autos hupten, eine Straßenbahn rasselte vorbei, aber die Menschen waren in ihren Grüppchen so sehr in Gespräche vertieft, dass sie es kaum beachteten. Quint betrachtete die Fassade. Da hingen Plakate in einem Schaukasten. Große Lettern über einem Eingang aus bogenförmigen Arkaden sagten ihm, dass er vor dem Theater in der Josefstadt stand.
Er drängte sich durch. In seinem dunklen Mantel wirkte er wie ein Herr, der auf dem Weg ins Kaffeehaus war oder gerade von dort kam. Dieser Eindruck war für eine Stadt wie Wien der richtige.
Schließlich kam er in die Straße, wo Lechners Antiquariat lag. Quint tastete nach seinem Einbruchbesteck in der rechten Innentasche des Mantels. Wenn er es berührte, klirrte es leicht. Er würde keine Schwierigkeiten haben, die Tür zu öffnen. Das Hauptproblem bestand eher darin, die Information zu finden, die er suchte. Das Antiquariat war riesig. Und es war ja nicht nur der Laden, den er durchsuchen musste, sondern das ganze Haus.
Er würde sich nicht damit aufhalten, nach harten Informationen zu suchen, die ihm verrieten, wo Lechner und Mara sein konnten. Was er brauchte, waren mehr elektronische Hinweise. Handynummern. Spuren auf Computern. Smartphones.
Die dunklen Scheiben des Ladens kamen in sein Blickfeld. In dieser Straße waren wesentlich weniger Menschen unterwegs als dort, wo das Josefstädter Theater lag. Er blickte nach oben und musterte die Fassaden. Hinter vielen Fenstern brannte Licht. Dort saß man beim Abendessen oder beim Fernsehen. Etwas rasselte. Eine ältere Frau kam ihm entgegen. Sie führte einen kleinen Hund an der Leine. Das Geräusch kam von dem Halsband.
Quint rief sich die Struktur des Stadtviertels ins Gedächtnis. Es war ein Netz aus geraden Längs- und Querstraßen. Wenn man einmal um den Block gegangen war, kehrte man automatisch an denselben Punkt zurück. Das konnte man so lange tun, bis die Luft rein war.
Als er das Antiquariat passierte, rauschte von hinten ein Wagen heran. Quint zog den Kopf ein und ging gemächlich weiter – wie ein Mensch, der genau wusste, wo es hingehen sollte, der es aber nicht eilig hatte, sehr schnell dorthin zu gelangen. Zu einer langweiligen Ehefrau. In eine langweilige Wohnung. In ein langweiliges Leben.
Diese Stadt drückte die Menschen in eine bestimmte Art von Melancholie, die er oft an Europäern bemerkt zu haben glaubte. Eine Art Weltschmerz. Das Gefühl der Verlorenheit. Seltsam, dass das gerade zu dieser Stadt so gut passte – wo sie doch so viele prächtige Bauwerke besaß, die eigentlich das Herz erheben sollten. Schlösser, Parks, große Plätze, Springbrunnen. Nicht zu vergessen die reizvolle Landschaft, in die sie eingebettet war.
Und doch wandelte man in den tiefen Schluchten der Stadt wie in einem Abgrund, man schlich durch eine gewisse Trostlosigkeit.
Er rief sich Maras Musik ins Gedächtnis. Die Melodien, die er gehört hatte – dort im Wald bei Köln. Diese Musik hätte die Macht gehabt, Melancholie einfach wegzupusten wie ein Wind, der dunkle Wolken vertreibt. Und doch war auch dieses Gefühl der Trauer darin enthalten. Es war, als beschreibe die Musik beide Zustände: den des Düsteren und den des Hellen.
Quint wurde klar, dass er im Unterbewusstsein schon die ganze Zeit über das seltsame Erlebnis mit Maras Musik nachgegrübelt hatte. Er war nur nicht auf die Worte gekommen, um zu beschreiben, was da geschehen war.
Ob es Deborah genauso ging? Ob sie nicht nur von dem Drang nach kommerziellem Erfolg besessen war? Ob sie Maras Musik liebte?
Er bog wieder um eine Ecke. Die Leuchtreklame eines Gasthauses wurde sichtbar. Im Vorbeigehen blickte er durch die Scheiben, die in der unteren Hälfte von Vorhängen versperrt waren. Doch er konnte zwischen den Möbeln aus dunklem Holz ein paar Leute erkennen, die über ihrem Abendessen saßen, neben dem Teller große Gläser – gefüllt mit bernsteinfarben leuchtendem Bier.
Wiener Schnitzel. Bier vom Fass.
Er hatte sich ein wenig über die kulinarischen Gepflogenheiten von Wien informiert. Und jetzt, wo er in den Gastraum blickte, spürte er Hunger.
Später würde er vielleicht etwas essen. Wenn er bei Lechner alles untersucht hatte.
Er sah auf die Uhr: Viertel nach acht. Wenn er nicht zu
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