Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
war mir schon klar, dass du Stress hast.«
Mara nickte nur. Sie dachte an den vergangenen Abend. Wie sie durch Berlin geirrt war, nachdem sie den Diebstahl der Geige entdeckt hatte. Mit der Polizei gesprochen hatte. Sich Beschwichtigungen hatte anhören müssen. Sie hatten sogar die Aufzeichnung der Überwachungskamera zurückgespult, und man hatte eine dunkle Gestalt sehen können, die das Schließfach öffnete und den Geigenkasten herausnahm. Aber die Person war nicht zu erkennen gewesen. Und die ganze Zeit über hatten sie Mara das Gefühl gegeben, selbst schuld zu sein. Warum hatte sie sich auch den Schlüssel klauen lassen?
Viel später hatte sie dann zu dem Bauwagenplatz gefunden, einem von hohen Häusern und Backsteinmauern umgrenzten Areal am Ende einer Sackgasse, das man durch ein altes Fabriktor erreichte.
»Du hast doch Stress, oder?«, fragte Jojo.
»Allerdings.«
»Willst du drüber reden?«
Wo war ihr Rucksack? Sie sah sich kurz um. Er stand am Kopfende der Matratze. »Schwierig«, sagte sie. Sie wollte die Seitentasche öffnen.
»Es ist noch da, keine Sorge«, sagte Jojo.
»Was ist noch da?«
»Dein Geld. Du hast gestern Abend schon danach geschaut. Du hast gedacht, ich hätte es nicht gemerkt. Aber ich hab’s gesehen. Ich hab nichts genommen.«
Mara überschlug in Gedanken, wie viel sie noch hatte. Es mussten so an die zweihundert Euro sein. Sie ließ den Rucksack sinken.
»Kriegst du so viel fürs Musikmachen? Hölle, das wäre auch was für mich …« Jojo lächelte vor sich hin und nippte an ihrer Tasse.
Mara erkannte in ihrem Gesichtsausdruck, dass sie träumte. Von einem besseren Leben. Oder einem Leben, das sie für das bessere hielt. Viele der Straßenkinder träumten sich andauernd in irgendetwas hinein, was sie nicht waren, was sie aber gerne wären. Oder in eine Zukunft, die sie gerne erleben würden. Und dabei bemerkten sie nicht, dass die Zeit verging, dass man sich nicht träumend einer Zukunft annähern konnte. Sie würde einem immer entwischen, egal wie nahe man ihr gekommen zu sein glaubte. Denn in Wahrheit änderte sich nichts. Man blieb auf demselben Fleck stehen. Man verträumte sein Leben.
Mara stand auf. »Gibt’s hier irgendwo einen Internetzugang?«, fragte sie.
»Musst du gleich wieder ans Arbeiten denken, oder was? Ich hab gedacht, wir haben noch ein bisschen Spaß hier zusammen oder so.«
»Entschuldige, aber ich muss eine bestimmte Sache klären.«
»Wenn du Stress hast, ist es doch sicher besser, wenn du dich erst ein bisschen ausruhst. Du warst so fertig gestern …«
Im Mittelbereich des Wagens war ein einfacher Tisch eingebaut, an der Längsseite unter dem Fenster stand eine Bank. Plastikmüll und schmutziges Geschirr bedeckten die Tischplatte. Auf der Bank stapelten sich Haufen von Wäsche und anderer Kram – darunter eine Zwillingsschwester der Decke, unter der Mara die Nacht verbracht hatte.
»Sorry, aber das ist wichtig.« Mara holte den Rucksack, stellte ihn auf die Tischkante, wo sie ein wenig Platz fand, und holte ihren Laptop heraus.
»Drahtloses Internet wird es hier kaum geben, oder?«
»Keine Ahnung. Mensch, nun mach doch nicht so einen Stress hier.«
Mara klemmte sich hinter das Gerät und fuhr es hoch. Dann suchte sie im Rucksack nach dem Internetstick, mit dem sie überall ins Netz kam, wo es Mobilfunk gab.
Jojo staunte. »Du bist ja cheffig ausgestattet«, sagte sie, aber Mara kümmerte sich nicht um sie. Beide schwiegen, während der Computer die Programme lud. Es kam Mara endlos vor, bis der Stick die Software gestartet hatte, mit dem sie ins Internet kam. Jojo sah Mara über die Schulter.
Mara war klar, dass sie schmollte, weil sie sich nicht mit ihr beschäftigen wollte. Egal.
Der Computer war hochgefahren. Was war besser? Zuerst die Mails zu öffnen oder nach neuesten Nachrichten zu suchen?
Nervös klickte sie auf das Symbol des Mailprogramms, dann auf den Browser. Die Fenster auf dem Display überlagerten sich, und Mara tippte los. Sofort kamen Ergebnisse.
Mara Thorn – Vertrag geplatzt?
Mara Thorn: Konzerte abgesagt. Neuer Manager erklärt die Karriere der Teufelsgeigerin für beendet.
Abgetaucht: Wo ist Mara Thorn?
Und dann kam es:
Mara Thorn – Violine gestohlen!
Mara spürte Jojos Atem in ihrem Nacken. »Sie haben dir deine Geige geklaut? Was für Schweine. Das ist ja voll krass.«
»Ja, gestern Abend«, sagte Mara gedankenverloren und las weiter. Es stand alles da: dass der Diebstahl im Bahnhof stattgefunden
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