Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
verunstalteten Hof. Dahinter erhoben sich die von Graffiti bedeckten Mauern des Haupthauses. Auf den Betonstufen, die zum Eingang hinaufführten, saß Jojo.
»Ich glaube nicht.«
»Trotzdem. Du musst weg. Du brauchst ein eigenes Dach über dem Kopf. Und dann müssen wir zusehen, dass die Polizei auch wirklich nach deiner Geige sucht.«
Das gute Gefühl steigerte sich. Mara genoss es, dass da jemand war, der das Heft in die Hand nahm und sagte, was zu tun war.
»Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war«, sagte Mara.
»Was meinst du?«
»Ach entschuldige … Ich meine John Grittis Tod.«
»Was meinst du damit?«
Und wieder – zum wievielten Male eigentlich? – versuchte Mara, in Worte zu fassen, was geschehen war, während sie mit John telefoniert hatte.
»Das ist doch seltsam, oder nicht?«
»Was sagt denn die Polizei dazu?«
»Soweit ich weiß, haben sie ein paar Erkundigungen eingeholt. Sie waren zum Beispiel bei Potter.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war selbst bei ihm und habe mit ihm gesprochen.«
»Ziemlich mutig von dir.«
»Danach habe ich mir die Unfallstelle angesehen … Gegenüber davon steht so ein altes Haus …«
Mara stockte. Sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, aber in diesem Moment wurde ihr etwas klar. Der Unbekannte in dem Keller. Orpheus aus der Mail. Hatten die beiden etwas miteinander zu tun? Waren sie ein und dieselbe Person? Und wenn das so war: Orpheus hatte sie gebeten, niemandem etwas von ihrem Kontakt zu sagen.
Ausnahmslos.
Aber zu Deborah konnte sie doch Vertrauen haben, oder nicht?
Ausnahmslos, Mara. Weißt du denn nicht, was das bedeutet?
Und Orpheus, zumindest der aus der Mail, war eben kein x-beliebiger Stalker. Er war nicht nur ein Fan, der sie verfolgte. Dafür wusste er zu viel. Und er versprach ihr, das Geheimnis ihres Lebens zu lüften. Was er dafür haben wollte, wusste Mara nicht, aber bis jetzt hatte er noch nichts verlangt. Er hatte sie nicht in Gefahr gebracht, er hatte sie nicht bedrängt. Obwohl er sie wahrscheinlich beobachtete – und wenn er wirklich derjenige war, der ihr damals die Violine geschenkt hatte, tat er das schon seit Jahren.
Sie brauchte also keine Angst vor ihm zu haben. Und deswegen war es besser, wenn sie Deborah nichts über ihn sagte.
»Ein Haus?«, fragte Deborah gerade. »Was für ein Haus?«
»Ach, ich weiß auch nicht … Ich hatte erst gedacht, jemand könnte den Unfall von dort beobachtet haben. Aber es ist gar nicht mehr bewohnt.«
»Den Unfall, der keiner war?«
»Ja, genau.« Mara musste über ihre kleine Unlogik lachen. Gut, dass Deborah für sie da war.
Einfach nur gut.
Ob sie ihr mehr erzählte, konnte sie sich ja noch überlegen.
»Lass uns später darüber reden«, sagte Deborah. »Ich komme nach Berlin. Ich hoffe, dass ich ganz schnell einen Flug erwische.«
Sofort? Wunderbar. Gute Deborah.
»Ich besorge dir schon von hier aus eine Unterkunft.«
Von hier aus? Was hieß das? Mara fragte nicht. Es war ihr egal.
»Ein Hotel kann ich aber nicht bezahlen«, sagte sie.
»Ich kümmere mich darum. Eine Wohnung wäre ohnehin besser. Und von dort aus schmieden wir einen Schlachtplan. Verlass dich auf mich, okay?«
»Okay«, flüsterte Mara.
»Ich schicke dir eine SMS mit der Adresse. Dort treffen wir uns.« Sie verabschiedete sich, und dann war die Leitung unterbrochen.
Mara sah aus dem Fenster. Jojo war verschwunden.
Sie packte ihre Sachen zusammen. Sie wollte schon den Bauwagen verlassen, doch dann fiel ihr etwas ein.
Sie suchte nach etwas zu schreiben und fand unter der Bank einen alten Briefumschlag. Einen Stift hatte sie im Rucksack. Sie schrieb ein paar Zeilen.
Es tut mir leid. Aber ich muss mich um eine schwierige Sache kümmern. Danke für Deine Hilfe. Und wenn Du Dir selbst einen Gefallen tun willst: Hör auf mit dem Schuleschwänzen. Versau Dir Deine Zukunft nicht.
Mara
Sie griff nach ihrem Geld und holte einen Fünzig-Euro-Schein hervor. Ihn und den beschriebenen Umschlag beschwerte sie mit einer leeren Flasche, die sie ebenfalls unter der Bank fand. Sie platzierte beides so auf dem Tisch, dass es auffiel.
19
Unter der Adresse, die Deborah ihr geschickt hatte, fand Mara einen weißen Wohnblock am Wald in der Nähe des Kleinen Wannsees. Balkons in Richtung See unterbrachen die weiße Fläche. Neben der Zufahrt gab es breite Garagen hinter einem leeren Parkplatz.
Deborah hatte angekündigt, dass sie gegen achtzehn Uhr in Berlin landen würde. Jetzt war es erst halb drei.
Mara war es
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