Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
gewohnt zu warten, die Zeit nur mit sich selbst und ihren Gedanken zuzubringen.
Sie spazierte die schmale Straße entlang, vorbei an kleinen Einfamilienhäusern. In einem der Vorgärten schnitt ein älterer Mann die Hecke. Als er Mara bemerkte, hielt er inne und beäugte sie misstrauisch. Er setzte seine Arbeit erst fort, als sie weiterging.
Ein Stück weiter führte die Straße in einen Wendehammer. Von dort aus verlor sich ein schmaler, ordentlich asphaltierter Weg im angrenzenden Wald. Mara folgte ihm ein Stück weit, wobei sie alle hundert Meter an einem Papierkorb vorbeikam und schließlich an eine Bank gelangte. Sie setzte sich und überprüfte ihr Handy. Das hatte sie schon mindestens drei Mal in den letzten Stunden getan und immer wieder festgestellt, dass es ausgeschaltet war. Umso besser. Sie hatte keine Lust, von Chloe oder gar Gritti belästigt zu werden. Diese Welt sollte nun erst mal aus ihrem Leben verbannt bleiben. Bis auf Weiteres.
Wenn sie nur Tamara wieder hätte …
Der Schmerz über den Verlust war quälend, und plötzlich sehnte sie voller Ungeduld Deborahs Ankunft herbei.
Sie musste ihr helfen. Aber konnte sie es auch?
Mara dachte an den Moment zurück, als sie Deborah Fleur kennengelernt hatte. Bei einem der ersten Konzerte mit John. Wie lange war das her?
Zwei Jahre? Drei?
Wie so viele war Deborah auf Maras Instrument zu sprechen gekommen.
»Eine interessante Geige haben Sie da.«
»Finden Sie?« Das war der Satz, mit dem Mara meistens darauf reagierte.
Seltsam, dass ihr Deborah sofort sympathisch gewesen war. Eigentlich sah sie eher spießig aus, kleidete sich sehr konservativ, aber das auf eine ganz eigene Weise.
Ihr schulterlanges, glattes Haar war hellblond und das so intensiv, dass es fast weiß wirkte. Auch alles andere an ihr schien zu strahlen: die fast weißlich blauen Augen, die helle Haut. Sie bevorzugte pastellfarbene Kleidung in Türkis, Hellblau, Hellgrün oder sogar Rosa. Zusammen mit den fast weißen Strümpfen und den ebenfalls weißen Schuhen konnte man glauben, sie sei einer Babystube entsprungen, und man erwartete instinktiv einen Geruch nach Puder.
Doch sie hatte nichts Kindliches an sich. Ihr Blick konnte einen geradezu in die Mangel nehmen. Es war unglaublich, aber Deborah schien nie blinzeln zu müssen. Sie fasste etwas ins Auge und schien es festzuhalten wie eine Schlange. Mara hatte sich manchmal gefragt, ob sie ihre Gegner im Gerichtssaal vielleicht gar nicht mit juristischen Argumenten aushebelte, sondern mit Hypnose.
Seltsam, dass sie damals mit dieser Frau so schnell ins Gespräch gekommen war, dass sie ihr ihre ganze Lebensgeschichte erzählte. Und von Teilen daraus, über die Mara selbst nichts wusste, über die sie aber unbedingt etwas erfahren wollte.
In Deborahs Miene – sie erinnerte oftmals an ein richtiges Pokerface – hatten sich immer nur vereinzelt Reaktionen gezeigt, die Mara zum Weiterreden animierten.
Zum Beispiel, als sie von ihren Pflegeeltern in Hannover erzählte.
»Sie haben gewusst, dass Sie nicht die wirkliche Tochter der Leute sind?«, hatte Deborah gefragt. Damals hatten sie sich noch gesiezt.
»Sie sagten es mir, als ich fünfzehn war.«
Seitdem waren es für sie immer nur ihre sogenannten Eltern. Und so schlimm das Leben für Mara war: Es hatte plötzlich einen Sinn. Den Sinn herauszufinden, woher sie wirklich kam.
»Wie war denn das Leben bei Ihren … sogenannten Eltern?« Deborah hatte sie starr angeblickt, und Mara hatte auf einmal gespürt, dass ihr da jemand zuhörte – zum ersten Mal im Leben. Sogar John hatte das nicht getan. Ihm war es immer nur um die Musik gegangen, und Deborah – das ging Mara gerade in diesem Gespräch auf – ging es um ihr Leben.
»Sie haben sie unterdrückt?«, fragte Deborah nach und nippte an ihrem Weinglas. Sie hatte Mara in ein kleines Berliner Lokal eingeladen. Mara aß zum ersten Mal in ihrem Leben Elsässer Flammkuchen und trank teuren französischen Weißwein.
Mara erzählte von dem Ehepaar Thorn, dessen Namen sie trug. Und an das Leben bei ihm.
Keine Musik bei den Hausaufgaben. Und auch sonst nur leise. Als sie selbst Musik machen wollte, bekam sie zu Weihnachten eine Heimorgel – obwohl sie gar keine wollte. Sie wollte Geige spielen. Schließlich besorgte man ihr eine Leihgeige von der Musikschule. Später fand sie eine eigene auf dem Flohmarkt. Und mit dieser übte sie dann richtig.
Der Unterricht in der Musikschule legte nur den Grundstein. Im Wesentlichen brachte
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