Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
sie sich das Geigespielen selbst bei. Sie schaute es sich ab.
Sie wollte nie das üben, was man ihr aufgegeben hatte. Die Folge war, dass die Lehrerin den Thorns eröffnete, aus ihr würde sowieso nichts. Ihr sogenannter Vater stellte sie zur Rede – wutentbrannt stand er da in seiner grauen Strickjacke, in der einen Hand die Zeitung, in der anderen seine Pfeife. Im Hintergrund die dunkle eichene Schrankwand mit den Ziertellern und den Büchern aus dem Buchklub.
Bald hatte Mara schon ihre eigenen kleinen Auftritte. Natürlich nicht wie ihre Mitschüler bei »Jugend musiziert« in braven Kleidchen und Schühchen – sondern in Undergroundklubs. Das, was alle als Klassik verstanden, hatte Mara ohnehin nie interessiert. Am allerliebsten improvisierte sie – und das konnte sie in diesen Klubs wunderbar. Die Atmosphäre war anregend. Inspirierend.
Natürlich verboten ihr die sogenannten Eltern die Auftritte bald. Sie begriffen nicht, dass sie diese Musik brauchte, dieses Musikmachen.
Sie schmiss die Schule. Zog weitere Kreise. Nach Hamburg, schließlich nach Berlin.
Ein paar Mal kassierte sie die Polizei ein, weil sie ja nicht volljährig war. Sie haute wieder ab.
»Sie müssen ein Wunderkind gewesen sein! Haben Sie nie versucht, eine richtige Ausbildung zu machen?«, hatte Deborah gefragt. »Ich meine, in der Musik? Ein Studium?«
Doch, sie hatte versucht, an eine Musikhochschule zu kommen. Sie hatte gehört, dass das in bestimmten Fällen auch ohne Abitur ging. Sie fand einen Professor, dem sie vorspielen konnte. Er sagte, vielleicht sei ein Jazzstudium etwas für sie, aber als sie anschließend in dem Gebäude der Musikhochschule dem Ausgang zustrebte, als sie aus den verschiedenen Räumen das Üben und Singen hörte, da sank ihr der Mut. Das alles erinnerte sie an die Schule, und sie wollte doch nicht wieder die Schulbank drücken, sie wollte frei sein, in ihrer Musik frei sein.
Und deshalb machte sie alleine weiter. Bis Gritti sie entdeckte.
»Und zu diesem Zeitpunkt hatten Sie die Schwarze Violine bereits?«
Mara nickte. »Ja, die hatte ich. Sie war ein Geschenk.« Dann nickte Deborah ebenfalls und fragte nicht weiter. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass Mara nichts weiter dazu sagen wollte.
Dann wechselte Deborah das Thema.
»Ich bin Anwältin«, sagte sie, und erst in diesem Moment fiel Mara ein, dass sie bisher nur über sie selbst gesprochen hatten, sie aber über Deborah gar nichts wusste.
»Ich könnte Ihnen vielleicht helfen, etwas über Ihre Eltern, Ihre echte Familie meine ich, herauszufinden. Was halten Sie davon?«
Mara dachte nach.
»Es geht mir nicht ums Geld«, redete Deborah weiter. »Ich mag Ihre Musik. Das reicht mir völlig. Tun Sie mir nur einen Gefallen. Hängen Sie es nicht an die große Glocke. Sagen Sie niemandem etwas davon, dass ich für Sie arbeite.«
»Warum nicht?«
Sie wiegte den Kopf hin und her, als würde sie nach Worten suchen. Mara fragte sich, ob diese Geste reine Show war. Deborah hatte es sicher nicht nötig, lange zu überlegen, was sie zu sagen hatte – wenn ein Gedanke erst einmal durchdacht war.
»Sagen wir, es würde die Preise kaputt machen. Und Mr Gritti wäre vielleicht ein bisschen … eifersüchtig.«
Mara verstand das. Sie tranken den Wein aus, plauderten noch über dies und das, freundeten sich an und tauschten sich darüber aus, dass sie beide eine kleine Leidenschaft für Twinworld teilten – die Cyberwelt im Internet, wo man als sein zweites Ich, als Avatar herumlaufen konnte. Halb scherzhaft vereinbarten sie, sich dort gelegentlich zu treffen.
Keine vier Monate später hatte Deborah herausgefunden, wo sich das Grab von Maras leiblicher Mutter befand. Doch woher diese Frau stammte, ob sie noch mehr Verwandte hatte, war nicht zu ermitteln. Das Grab existierte nicht mehr. Man hatte es nach zwanzig Jahren aufgegeben.
Mara blieb nur der Name.
Ihre Mutter hieß fast genauso wie sie: Tamara. Und sie trug wie John einen Nachnamen, der italienisch klang. Daprato.
Tamara Daprato.
Der Name verfolgte Mara seitdem. Und wenn sie nachts von ihrer Mutter träumte, dann kam es ihr in den seltsamen Verzweigungen der Träume, die dann im Schlaf doch ganz selbstverständlich und realistisch wirkten, so vor, als seien die Geige und ihre Mutter dieselbe Person.
Sie kehrte aus ihren Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Sie war alleine in dem kleinen Wäldchen. Nachdenklich klappte sie ihren Laptop auf und ging online. Zwei Mails von Chloe.
Die alte
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