Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
erschießt mich tatsächlich, dachte sie. Jetzt gleich. In der nächsten Sekunde.
Was würde geschehen, wenn sie die Kugel traf?
Von einem Schlag auf den nächsten würde sie das Nichts verschlucken. Als hätte sie nie gelebt, als sei sie nie geboren worden. Ein unbewusstes Nicht-Sein. Ausgelöscht.
Etwas ratschte.
Mara hatte es durch die Flut der Gedanken, die plötzlich auf sie einstürmten, kaum wahrgenommen. Aber es hörte sich genau so an, wie wenn jemand eine Pistole durchlud.
Etwas in ihr schrie auf.
Tu etwas! Versuche, es hinauszuzögern! Gib dich nicht auf! Jede Sekunde zählt!
Sie ließ sich nach vorn fallen. Etwas drückte in ihre Seite. Ein Ast oder ein Stein.
Im selben Moment krachte ein trockener Knall.
Er hatte geschossen! Er hatte tatsächlich geschossen …
»Shit.«
Bleib in Bewegung.
Sie bot ihre ganze Kraft auf und rollte zur Seite. Ein zweiter Schuss krachte. Harte Stückchen sprühten gegen ihre Wangen. Holzsplitter.
Schritte rauschten heran – durch Unterholz und Laub. Sie wurde gepackt und nach oben gezogen.
»Bleib ruhig stehen!«, schrie der Mann.
Mara wunderte sich über die Nervosität in seiner Stimme, und trotz der Angst, die in ihr tobte, kam ihr eine Erkenntnis: Er hatte kein Interesse daran, viele Male hier herumzuballern.
Sicher befanden sie sich weit weg von der nächsten Siedlung, und sie waren hier ganz allein. Doch irgendwer war immer in den Wäldern unterwegs. Wanderte. Führte den Hund aus. Sägte Holz. Oder machte sonst was.
Viele potenzielle Zeugen, die Schüsse hören konnten.
In Amerika, wo dieser Quint offensichtlich herkam, konnte man sich in Regionen zurückziehen, die komplett menschenleer waren. In Deutschland war das schwierig.
Mara dachte nicht daran zu gehorchen. Je mehr Fehlschüsse der Typ abgab, desto besser.
Aber mehr, als sich dauernd fallen zu lassen und herumzuwanken, fiel ihr nicht ein. Und das würde auf die Dauer auch nichts nützen. Irgendwann hielt er ihr die Pistole direkt an den Kopf.
»Moment«, keuchte Mara. »Einen Moment noch.«
»Was willst du?«, rief der Mann ungehalten. »Es hat keinen Sinn, das weißt du doch.«
»Trotzdem.«
Er schubste sie nach hinten, sodass sie auf den Rücken fiel. Das Metall schnitt ihr in die Handgelenke.
»Und?«, fragte er.
»Nimm mir den Sack und die Handschellen ab.«
»Was? Warum?«
»Bitte.«
Er machte einen Schritt auf sie zu, dann schien er zu verharren und nachzudenken.
»Ich will … die Umgebung sehen«, sagte sie. Es kam ihr fast ein bisschen theatralisch vor, das zu sagen. Aber sie gewann Zeit. Er sprach mit ihr. Und solange er das tat, schoss er nicht.
»Was soll das bringen?«
Sekunden vergingen. Mara zählte sie in Atemzügen.
»Wenn doch alles aus ist«, sagte sie, »dann kann es dir doch egal sein.«
Die Zeit rann dahin. Wie Körnchen in einer Sanduhr.
Wieder Stille. Wieder schien der Mann nachzudenken.
»Wo hast du deinen Player?«, fragte er dann.
Mara glaubte, sich verhört zu haben.
»Was?«
»Die Musik, die du vorhin gespielt hast. Ist sie darauf?«
Mara musste kurz überlegen, was er meinte. Ja, sie hatte vor ewigen Zeiten Geige gespielt. In Deborahs Wohnung oder Unterkunft oder Versteck oder wie auch immer man das nennen konnte.
»Ja«, sagte sie. »Auf dem Handy.« Warum interessierte ihn das auf einmal?
Der Mann griff nach ihren Händen und machte ihre Handgelenke frei. Der Sack verschwand von ihrem Kopf, und Mara konnte sehen, wo sie sich befanden.
Ihr Blick ging in kahlen Wald. Durch das Unterholz führte ein schmaler Pfad, auf dem sie wahrscheinlich gekommen waren. Mara drehte sich um und bemerkte hinter sich einen Abhang. Er ging steil in die Tiefe und war von dichtem Gebüsch bedeckt. Ganz unten war ein Stück dunkelgrauer Asphalt zu sehen. Offenbar führte dort eine Straße entlang.
»Schau mich an«, sagte der Mann. Er stand etwa fünf Meter entfernt und richtete eine Pistole auf Mara. Neben ihm befand sich ihr Rucksack. Er war offen, als hätte der Mann etwas darin gesucht. »Wo ist das Handy?«, fragte er, ohne die Mündung der Waffe von ihr abzuwenden. »Gib es mir.«
Wieder eine Möglichkeit, Zeit rauszuschinden, dachte Mara. Sie spitzte die Ohren. Es war nicht mehr so still im Wald. Von irgendwoher vernahm sie Motorengeräusche. Sie kamen aus dem Tal hinter ihr. Auf der kleinen Straße da unten herrschte Verkehr. Wenig, aber immerhin.
»Ist es nicht im Rucksack?«, fragte sie.
»Du hast es bei dir. In deiner Tasche. Wirf es
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