Die Päpste: Herrscher über den Glauben - von Petrus bis Franziskus - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Christian Wulff fragen lassen, wie barmherzig seine Kirche »mit Brüchen in den Lebensgeschichten von Menschen« umgehe. Gemeint hat der katholische Politiker seine eigene Lebensgeschichte: Als wiederverheirateter Geschiedener ist er vom Empfang kirchlicher Sakramente ausgeschlossen.
Erwartet seit Jahrzehnten wird, zumindest in Europa und Nordamerika, eine Lockerung der strikten kirchlichen Sexualmoral, sei es in Fragen der Empfängnisverhütung oder der Partnerschaft von Homosexuellen. Ewiges Ärgernis für viele Katholiken ist auch die ausbleibende Anerkennung kirchlicher Frauenarbeit, das strikte Nein aus Rom zur Frauenordination. Warum nur besteht der Vatikan darauf, in der Verwaltung der Kirche möglichst ohne den organisierten Rat von Laien auszukommen? Und warum, größtes Ärgernis von allen, gibt es keine Fortschritte im Verhältnis zu den protestantischen Kirchen?
In allen diesen Fragen hat sich Benedikt als mal mehr, mal weniger harscher Bremser erwiesen. Aber kann er überhaupt anders und sollte er? Anderen christlichen Kirchen ist das Hinterherhecheln hinter der angeblich normenbildenden Moderne nicht gut bekommen. Über die Frage der Bischofsweihe für Frauen oder Schwule hat sich die Anglikanische Kirche de facto zerlegt. In einem Überraschungscoup hat der römische Papst den vom Modernisierungsdruck frustrierten anglikanischen Klerikern eine neue Heimstatt in seiner Kirche angeboten – Ehefrauen ebenfalls herzlich willkommen. Alle protestantischen Mainstream-Kirchen, die sich auf der Jagd nach dem Zeitgeist der Welt zu sehr angepasst haben, büßen das durch dramatischen Mitgliederverlust. Nur die fundamentalistischen Gemeinschaften verzeichnen einen deutlichen Zuwachs an Gläubigen.
Und in gewisser Weise ist auch Benedikt ein Fundamentalist, der seinen Gläubigen die »Entweltlichung« empfiehlt. Die Kirche, die ihm vorschwebt, ist kleiner, ärmer, dafür aber gläubiger. Sein Grundsatz lautete: »Die Kirche muss sich von ihren Gütern trennen, um ihr Gut zu bewahren.«
Während sein Vorgänger in der Lage war, Millionen durch die große emotionale Geste anzusprechen, geht von seinem Nachfolger die Fama, dass er ernüchtert vom Weltjugendtag in Köln zurückgekommen sei. Auf Jugendliche, die ihn als »Benedetto« bejubeln, ansonsten aber ihr Leben nach eigenem Gutdünken einrichten, könne die Kirche seiner Meinung nach auch verzichten.
Benedikt war ein großer Kämpfer gegen die Verlockung der Moderne, die besagt, dass jeder nach seiner Fasson selig werden könne. Es gibt nur eine Wahrheit, predigte er, und natürlich meinte er seine. Es reiche nicht, dass jeder sich seine Werte selbst zurechtlegt. Zwei Tage vor seiner Wahl zum Papst predigte er noch gegen die »Diktatur des Relativismus«, kurz vor seiner Demission sprach er schon vom »Terror des Relativismus«.
Als Seelenhirte, ein Gebiet, auf dem Professor Ratzinger keine großen Erfahrungen hat, bleibt der Papst ein unergründliches Paradoxon: Er war zweifellos der gelehrteste Pontifex auf dem Stuhl Petri seit dem 18. Jahrhundert, er kann noch im Schlaf die »summa theologica« aller großen Kirchenlehrer abrufen. Aber er wollte immer der Theologe für den einfachen Gläubigen sein, derjenige, der die intellektuelle Arroganz moderner Glaubensauslegungen enthüllt; der historisch-kritischen Forschungen stets skeptisch gegenüberstand; der den Positivismus, nach dem alles empirisch verifizierbar oder falsifizierbar sein muss, in Grund und Boden verdammte.
Sein Vertrauen in den einfachen Gläubigen war grenzenlos. Wer etwa 2007 seine Generalaudienzen besuchte, den traktierte Benedikt mit einem Oberseminar über die Lehren antiker Kirchenväter. Er sprach über Chromatius von Aquileia, den »weisen Lehrer und eifrigen Hirten«, der sich hervorgetan hat im »Chor der Seligen«, die in dieser norditalienischen Stadt gegen die arianische Irrlehre kämpften; über Paulinus von Nola, den »Dichter der Schönheit Gottes«; über Aphrahat den Weisen, den syrischen Kirchenlehrer aus dem heutigen Ninive im Irak; über Eusebius von Vercelli, der, ganz wie er selber, schon im 4. Jahrhundert die »Wahrheit gegen die Vorherrschaft der Politik« verteidigt hat. Dass Benedikt wie sein Vorgänger Johannes Paul ein großer Menschenfänger gewesen sei, hat ihm noch niemand vorgeworfen.
Seine 24 Jahre als Glaubenswächter, die dem ungewöhnlich freundlichen, allenfalls im hochtheologischen Disput ausnahmsweise auch mal sarkastischen Professor den völlig
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